Die Rebe ist eine Liane
Rüdesheim am Rhein. Hotel zur Traube oder so, die wesentliche Deko: Weinlaub aus lackiertem Metall. Ausgebucht mit chinesischen Touristen, die früh morgens von Bussen abgeholt werden. Am nächsten Morgen wird schon die nächste Gruppe Chinesen abgeholt. Vom Hotelzimmer habe ich einen unverbaubaren Blick auf die B42, auf die dahinterliegende Güterbahnlinie, den Rhein mit vertäuten Kreuzfahrtschiffen und vorbeiziehenden Öltankern. Und schließlich auf Bingen, den Ort auf der gegenüberliegenden, pfälzischen Rheinseite. Im Sträßchen-Gewirr rund um die Drosselgass' stehen rustikale Holzbuden. Rüdesheim atmet noch immer die Sehnsucht der Adenauer-Republik nach Aufbruch, Wohlstand, und einem unbeschwertem Geschichtsvergessen, beflügelt durch klebrig-goldige Rieslinge mit schrulligen Etiketten. Dass mitten durchs Weinidyll die Heilige Dreifaltigkeit des Rekord-Export-Meisters aus Güterzugtrasse, Flussautobahn und Bundesstraße donnert und stinkt, stört die Chinesen nicht. Aber mich auch nicht. Ich habe einen Schlaf, so eisern wie das Rebendekor im Treppenhaus.
"Die Rebe ist eine Liane."
"Die Rebe ist eine Liane." Das ist das erste, was ich lerne im Rebschnittkurs von Simonit und Sirch, der an der Hochschule in Geisenheim stattfindet. Die Rebenliane rankt sich an allem hoch, was in ihrer Nähe steht: einem Pfahl, einem Draht, einem Baum, einer anderen Rebe. Ich weiß, wie das nach ein paar Jahren aussieht, wenn man nicht eingreift: Myriaden in sich verschlungener Tentakel - wie im steilen Süden.
Um im Wettbewerb um das Sonnenlicht zu bestehen, verfügen Lianen über einen großen Vorteil gegenüber ihren Wettbewerber*innen: Der Austrieb, der am weitesten von Wurzel und Stamm entfernt ist, treibt am stärksten aus. Im Kurs nennen wir das "apikale Dominanz". So gelangt die Pflanze am schnellsten in die Krone der Bäume und kann dort ungetrübt Photosynthese betreiben. Wenn man aber Trauben ohne Leiter ernten möchte, muss man hier einschreiten. Also schneiden. Aber wie?
"Follow the flow", lautet die Devise
Jeder Schnitt an der Pflanze ist ein lautloses "Autsch". Wir spüren ihn nicht, aber der Pflanze fügen wir eine Wunde zu, wie ein Schnitt in die Fingerkuppe bei der Weinlese. Über Wunden können Krankheiten in den Organismen eindringen, bei der Pflanze nicht anders als beim Menschen. Die Konsequenz daraus heißt: So früh wie möglich schneiden und so kleine Schnitte wie möglich machen! Außerdem: Wenn wir falsch schneiden, vollzieht sich die Vernarbung der Wunde so, dass der Narbenwulst nach innen wächst. Dann wird der Saftfluss der Pflanze von den Wurzelspitzen in die Blätter und Trauben gestört. Das geht zu Lasten von Quantität und Qualität. Außerdem ist das sich dabei bildende Totholz ein idealer Nistplatz für Holzkrankheiten wie der Holzfäule Esca. Damit das Eintrocknen nicht im Altholz passiert, schneiden wir im Winter das zweijährige Holz nicht auf den Stamm zurück, sondern lassen ein Stück stehen, das so genannte "Respektholz". Im Folgejahr können wir das dann abgetrocknete Respektholz entfernen. Der Vorteil. Die Austrocknung findet außerhalb des Altholzes statt, das Altholz wird nicht belastet.
Zwei Wochen nach dem Kurs in Geisenheim besuche ich zwei Bio-Weingüter im Lyonnais, südwestlich von Lyon. Ich schaue jetzt anders auf die Reben - und entdecke überall Respektholz aus dem letzten Jahr. Der Altwinzer Robert, sagt, dass er sich die neue Methode nicht mehr aneignen könne. Eine Rebe, bei der "so Stummel" stehenblieben, sehe für ihn nicht richtig aus. Aber sein Sohn, der heute das Weingut führt, ist überzeugt von der neuen Schnittmethode. Und da er nicht genug Leute findet, die wissen, wie das geht, bekomme ich gleich eine Einladung zum Rebenschneiden ...