Schlagwort: Riesling-Kollektiv

Mosel 2022 – Sonnenscheinjahrgang mit verregnetem Ende

Am 25.September dringen wir mit schwenkenden Leseeimern und gezückten Scheren in den Steilen Süden vor. Es gießt nicht. Es schüttet nicht. Aber es regnet. Tropfen fallen, und wenn keine fallen, ist die Luft trotzdem nass. Und die Reben sowieso. Es hilft nichts, wir müssen die Trauben retten. Drei Brigadistinnen haben in der Woche drauf, was Nostalgisches in Katalonien zu verrichten und stehen nur an diesem Wochenende zur Verfügung. Außerdem soll es die ganze Woche weiterregnen. Die Beerenhäute sind jetzt schon dünn, und das Mostgewicht stagniert seit zwei Wochen bei circa 80 Grad Öchsle. Mit jedem Tag steigt das Risiko, dass die Beeren aufplatzen und die Fäulnis einzieht. Also machen wir das Beste daraus. Die Wanne, in der die Trauben nach Lieser transportiert werden, steht trocken im Transporter. In der Hotte (Kiepe) hat sich in der „Kaffeepause“, mit der wir den Einsatz beginnen, schon ein halber Liter Regen gesammelt. Ich drehe die Hotte einmal um, dann schnalle ich sie mir auf den Rücken, um die erste Runde Trauben aufzuladen. Die Leser*innen schütteln die Reben kräftig durch, bevor sie die Trauben abschneiden. Bevor sie die Trauben in die Hotte schütten, gießen sie das Wasser aus, das sich dennoch am Boden der Leseeimer sammelt. Mit Sorgfalt und Ruhe sind wir zuversichtlich, trotz der für diesen Tag angekündigten vier Liter Regen die 80 Grad Öchsle in den Grumbach’schen Keller zu retten.

Blick in die Traubenwanne. Platz wäre noch massig. Und wie siehts im Inneren der Trauben aus? Mein Winzer-Onkel Hans-Klaus lachte immer über den Nachbar, der mit den von ihm mit dem Refraktometer im Wingert gemessenen Mostgewichten herumprahlte. „Am Ende kommt’s drauf an, was du im Keller misst.“ Denn Richtung Gärtank passiert noch so mancher Öchsle-Schwund.

Sonnenschein und Regen

Unsere internationalen Lesebrigade setzt sich jedes Jahr neu zusammen. Zu den wenigen Routiniers und Routinières gesellen sich immer wieder Novizen und Debütantinnen. Dieses Jahr waren wir zu wölft. Hein, Meret, Thomas, Emilie, Martin, Christine, Moni, Svenja, Undine, Axel, Simon, Hannah. Mit so vielen Händen geht die Lese schnell. Selbst so eine unpraktische Parzelle wie der Steile Süden, bei dem die Ernte komplett noch oben aus dem Steilhang herausgetragen werden muss, war nach vier Stunden in der Wanne – und natürlich: Kaum waren wir fertig, mit Lese und Picknick, kommt die Sonne raus. Dieselbe Sonne, deren Präsenz das Jahr 2022 von Anfang an prägte. Der Anfang war zu perfekt: Der Frühling war warm, der Austrieb früh, es gab keinen Spätfrost. Wegen des geringen Niederschlags war der Pilzdruck gering. Aber dann gab in den Monaten Juli und August überhaupt keinen Niederschlag. Junganlagen ohne künstliche Bewässerung gingen ein, Reben, die vor weniger als zehn Jahren gepflanzt wurden, zeigten deutliche Spuren von Trockenstress: Im August waren ihre Blätter gelb, und sie stellten die Versorgung der Trauben ein. Mission Selbsterhalt. Alte Reben wie die im Steilen Süden haben mit ihren dreißig und mehr Metern in den Schieferboden ragenden Wurzeln keine Probleme dieser Art. Dennoch: Auch hier waren die Beeren klein, und sie enthielten kaum Saft zum Auspressen. Am 11.September hatten die Beeren im Steilen Süden nach dem Sommer mit den meisten Sonnenstunden seit Beginn der Aufzeichnungen schon 81 Grad Öchsle (2021 waren es vier Wochen später gerade mal 76). Dann kam der Regen.

Alchimist*innen an der Kelter

Emilie und Christine schicken die Trauben aus dem Neefer Frauenberg auf die Grumbach’sche Kelter in Lieser.

Ein letzter Blick auf die Wanne, die im Lieferwagen steht. Als ich losfahre nach Lieser sieht die Menge noch recht vielversprechend aus. Aber als Peter Grumbach im Schongang presst, um nicht den bitteren Saft der Kerne oder die Schalenaromen mit in den Most zu bekommen, ist das quantitative Ergebnis doch sehr ernüchternd: 220 Liter im Ruhetank, deutlich weniger als im Jahr zuvor. Wir lassen den Most über Nacht stehen. Die Schwebstoffe sinken zu Boden. Peter pumpt den klaren Most am 26.09.2022 rüber in den Stahltank und lässt 30 Liter so genannten Trub in die Kanalisation laufen. Jetzt sind es noch 190 Liter. Durch Gebindewechsel, Verkosten und Abfüllung geht noch ein bisschen was flöten … So knapp 220 Flaschen könnte der Steile Süden 2022 am Ende bringen. Aus ca. 800 Stöcken ist das ein verdammt mageres Ergebnis. Die paar Flaschen werden wir wohl im Rieslingkollektiv alleine austrinken müssen. Und was dann noch fehlt, besorgen wir uns beim Weingut Grumbach. Am 3. Oktober lasen wir da bei schönstem Sonnenschein circa 500 Liter mit 83 Grad Öchsle.

Noch hat der frisch gepresste Most aus dem Steilen Süden im Neefer Frauenberg 80 Grad Öchsle…
… dann kommt die Temperaturkorrektur der Öchslewerte: Bei 14 Grad Celsius Mosttemperatur müssen wir von den 81 Öchsle noch mal zwei abziehen, was uns auf 79 bringt. Das gibt aufgrund der niedrigen Säurewerte in diesem Jahr einen durchgegorenen Riesling mit knapp 11 Prozent Alkohol. Eigentlich perfekt! Ach, was heißt schon eigentlich! Es ist perfekt!

Wie mit der Menge, so geht es auch mit den Öchsle kontinuierlich bergab. Die Messung am 11.09. mit Refraktometer ergab noch 81 Öchsle. Dann kamen Regen und Kälte, die Trauben nahmen Wasser auf, und in den zwei Wochen bis zur Lese schaffte es die Photosynthese gerade einmal, die 81 Grad Öchsel zu halten – an sonnigen Herbsttagen sind eigentlich bis zu zwei Öchsle Zuwachs drin, durch Assimilate aber auch durch Konzentrationssteigerung in Folge Verdunstung. Nach Trubabzug und Temperaturkorrektur waren wir bei 78 Grad Öchsle. Ich finde das ja ausreichend (sic!). Aufgrund der geringen Säure dürfte das einen trockenen Riesling mit knapp 11 Prozent Alkohol ergeben. Am 11. September waren die Trauben im Steilen Süden zwar vom Mostgewicht reifer als Mitte Oktober ein Jahr zuvor, aber sie hatten keinen Geschmack. Sie waren einfach nur süß. Wir wussten, dass der Regen kommen würde und dass damit das Fäulnis-Risiko stieg. Aber wir hatten keine Wahl. Es musste sich Saft in den Beeren bilden, damit sich das Keltern überhaupt lohnen würde. Und – noch viel wichtiger – es sollten sich neben der Süße auch die typischen Riesling-Aromen ausbilden. Das ist in den beiden Wochen im Wechsel von Regen und bedecktem Himmel auch geschehen. Der erste Schluck Most nach dem Keltern war aromatisch sehr überzeugend.

„Ach komm , das wird ein Supertröpfen….. und mit Geld lässt sich der Spaß eh nicht aufwiegen schließlich geht es um die Idee“ (Brigadist Thomas A.)

72 Grad Oechsle im Steilen Süden

Sonntag, 6. September 2020. Auf meiner Radtour durch Nordostfrankreich Ende August waren selbst die Weingüter an der Saône und teilweise sogar schon im Jura in der Weinlese. Wie sah’s an der Mosel aus? Im Steilen Süden? War unser Riesling am Neefer Frauenberg eventuell schon überfällig für die Presse? Also fahren Svenja und ich gleich am Sonntag hin, vorbei an kopfschüttelnden Spaziergängern (Auto im Weinberg – unerhört!). Wir inspizieren den Gesamtzustand des Hangs und mischen eine Probe aus den verschiedenen Terrassen zusammen. Ich zermatsche alle Beeren vorbildlich in einem Einmachglas, bis sich genügend Saft gebildet hat, und lasse zwei Tropfen aus der Pipette auf das Prisma des Refraktometers fallen. Das Gerät überträgt die Veränderung der Lichtbrechung durch den aufgetragenen Stoff, in unserem Fall Traubensaft, auf eine Skala, an der ich jetzt das Mostgewicht ablesen kann. In Deutschland wird es in „Grad Oechsle“ angegeben. „72“ lese ich ab. Das entspricht auch dem Geschmackstest. Die Riesling-Beeren sind noch kratzig. Sie müssen noch hängen bleiben und „Photo-Zucker“ aufbauen. So weit also alles okay: Wir sind auf keinen Fall zu spät dran.

In den Sternen steht eine Zahl: „72“. Einheit: Grad Oechsle. Das ist für den 6. September ganz in Ordnung, wenn man das mit den publizierten Zahlen der Vorjahre vergleicht. 80 plus X sollten es aber schon noch werden. (Foto: Svenja Becker)

Und die Öchsle der Nachbarn?

72 Grad Oechsle, das ergäbe so knapp 9,5% Alkohol. „Salattunke“ könnte die Einschätzung Hermann Grumbachs dazu lauten, würde man ihn fragen. Das wissen wir aber auch selber und fragen ihn erst gar nicht. Also hängen lassen! Aber wie lange? Wir testen bei den Nachbarn: Auf 71 kommt der eine Wingert, auf 74 der andere. Wir liegen in der Mitte und sind erleichtert. Hätte ja auch sein können, dass der Steile Süden in Sachen Mostgewicht so eine Art Spätentwickler ist. Ist er aber zum Glück nicht, und das ist nun mit einem geeichten Spezialisten-Instrument bewiesen! Aber wieso ist an der Mosel alles so spät dran? Ich rufe Christine Chaussy in Orange an der südlichen Rhône an. Bei denen ist auch noch nichts reif, sagt sie. Also, alles in Ordnung in der (meiner) Welt des Weins. Nur im Beaujolais, Burgund und Jura war alles viel zu früh dran. „Zwei Monate früher“, meinte Pierre Overnoy sogar, als ich ihn in Arbois traf. Svenja und ich beschließen jedenfalls, den Riesling mindestens bis Ende September, Anfang Oktober hängen zu lassen. „80 Grad Oechsle plus x“ lautet jetzt das Ziel. Bei einem Zuwachs von 1,5 Grad Oechsle pro Tag – wenn die Sonnen mitspielt – sollte das erreichbar sein. Bei 85 Grad Öchsle käme der Wein, wenn alles durchgärt, auf ungefähr 11,5%. Ahoi Steiler Süden! Bis die Oechsle erreicht sind, halten wir uns und den Rieslinggott bei Laune mit Hermann Grumbachs Devonschiefer aus Lieser.

Geschein, das [Botanik]: Blütenstand der Weinrebe

Sein Vokabular erweitert man nicht nur, wenn man neue Sprachen lernt. Man erweitert es auch, wenn man sich sonst wie mit neuem Wissen anreichert. So wie ich in Sachen Weinbau. Das Wort „Geschein“ hätte ich früher verächtlich als Kirchenvokabular abgetan, irgendwo zwischen „Geldschrein“ und „Heiligenschein“. Dank Svenja weiß ich es nun besser, denn das „Geschein“ ist für die Wandlung von Grundwasser zu Wein essentiell. Das Foto oben zeigt das Geschein im Steilen Süden: den Blütenansatz des Rieslings, also das, woraus die Blüten und dann später die Trauben werden (sollen). Nicht gerade üppig, was hier entsteht, aber zu viel, um die Hacke gleich in die Dornen zu schmeißen. Wenn nicht noch der Frost über die Blüte kommt, oder die Juli-Sonne die Beeren verbrennt. Wenn nicht Wühlmäuse und Rebläuse die Wurzeln abfressen. Wenn nicht Wildschweine und Vögel aus den Büschen hervorbrechen und alles niederreißen oder aufpicken. Wenn nicht, wenn nicht, wenn nicht … dann gibt es 2021 einen „Steilen Süden“, einen Riesling aus einer Extremlage am Neefer Frauenberg! Auch wenn’s nur 70 Liter werden (wie beim Château d’Yquem haha). Lang lebe das Riesling-Kollektiv!

Svenja im Steilen Süden beim Ausbrechen. Immer darauf bedacht, das scheue Geschein nicht zu erschrecken.

Hacke(l)n, hacke(l)n, hacke(l)n

Mit Andreas, meinem Vater, war ich oft in den Weinbergen unserer Verwandten in Mehring an der Obermosel. Hans-Klaus, der Winzer, brachte mir auf dem roten Traktor das Autofahren bei, da war ich acht. Ich mag den Sing-Sang des Moselfränkischen, die Herzlichkeit der Leute hier. Ich mag auch die steilen Hänge und die Arbeit darin. Aber den grünen Winzer-Daumen kriegt man davon nicht. Der Kalk, den Undine und ich zur Verbesserung des pH-Werts ausgebracht haben, hat sich in der Oberfläche verbacken, statt sich, wie gewünscht, aufzulösen, in den Boden einzudringen und die Nährstoffaufnahme der Reben zu verbessern. Jetzt gibts rund um die Reben betonartige Flecken: Parkplätze für Matchboxautos …

Und immer wieder die Hacke. Gegen das Massiv-Wurzelwerk von Brombeere, Waldrebe und Schlehe. Und zum Nachzerkleinern des verbackenen Kalks.

Die drei Plagen des Weinbergs

Ich kaufe nicht nur aus Faulheit alles im Wintringer Hof, dem ambitioniert arbeitenden BIO-Hof der Lebenshilfe Obere Saar. Die Qualität der Produkte überzeugt mich. Aber vor allem wohne ich neben den Äckern, Feldern und Obstanlagen und freue mich, dass hier kein Chemiekrieg tobt. Ich selbst setze auch keine Pesti- und Sonstwie-Zide im Garten ein. Aber in den Reben des Steilen Südens, die inmitten einer Monokulturlandschaft stehen, die vom Dreiländereck im luxemburgischen Schengen bis in die „Bundesstadt“ Bonn reicht, herrscht bisweilen Not: Nach über 100 Jahren können die Böden nicht immer weiter dasselbe liefern, was die Rebe für ihre monotone Diät benötigt. Eigentlich müsste man düngen … mache ich aber nicht. Dazu kommt die Anfälligkeit der Monokulturen gegen hoch spezialisierte Invasoren: Tiere. Pflanzen. Pilze. Dagegen gibt es: Insektizide, Herbizide und Fungizide. Statt Insektiziden nutzen heute alle Sexualduftstoffe, mit denen die Insekten in die Irre geleitet werden. Statt Herbiziden wird zumindest im Steilen Süden dauernd gehackt: damit die Wurzeln der Reben Platz haben, und keine anderen Pflanzen ihnen die ohnehin spärlichen Nährstoffe und das Licht (und damit ihre Energiequellen) streitig machen.

Undine beim Botanisieren mit dem Smartphone. Hier grünschimmernde Käferchen, anderswo Walderdbeeren.

„Dat kannse trinke“

Es bleiben die Fungizide. Gespritzt wird auch im Bio-Weinbau mit Schwefel und Kupfer – eine unbefriedigende Dauerausnahme, da Kupfer ein Schwermetall ist, das sich im Boden anreichert und in die Wasserläufe ausgespült wird. Eingesetzt wird Kupfer gegen Oidium (echter Mehltau) und Peronospora (falscher Mehltau). Wenn eine der beiden Pilzsorten die Rebanlagen bei feuchtwarmem Wetter befällt, ist die ganze Ernte futsch. Daher wird an den Steillagen der Mosel mit dem Hubschrauber gespritzt: Kupfer und Schwefel (wie im Bio-Weinbau), aber auch ein paar andere Produkte der großen Pharmakonzerne mit Namen wie „Profiler“,“Viavando“ und „Delan Pro“. Was genau wann und wo in welcher Menge gespritzt wird, steht auf der Seite der Landesregierung von Rheinland-Pfalz.

Markierung für die Hubschrauberspritzung in der Form eines „!“ am Einstieg in den Steilen Süden. Ich verstehe das Ausrufezeichen als Appell an mich: Ich muss im nächsten Jahr deutlich weiter sein, wenn ich eigenen BIO-Wein ohne Kupferspritzung erzeugen will!

„Wat die heut spritze, dat kannse uch trinke“, sagt einer der Winzer, der den Hubschrauber für einen Brauseverteiler vom Sozialamt hält und lieber hinterher noch mal mit dem Bulli durch die Gassen fährt und das richtige Zeug nachspritzt. Bei den Hubschrauberspritzungen wird auch der Steile Süden abgedeckt. Damit wird dieser Riesling-Collective 2020 kein Bio-Erzeugnis. Nicht in diesem Jahr. Nicht an diesem Ort. Bin ich schon so schnell an meine Grenze gestoßen? Hab‘ ich schon nach kaum einem Jahr klein beigegeben? Nein! Aber ich kümmere mich hier mit Freunden um einen alten Rebberg, der mit Riesling bepflanzt ist und in Pfahlerziehung angelegt wurde, umgeben von Weingütern, die von ihrer Arbeit leben müssen. Alles Gründe, warum es nicht ganz ohne den so genannten „Pflanzenschutz“ der IG Farben-Nachfolger geht. Also lasse ich den Hubschrauber auch über den Steilen Süden fliegen. Aber das Ziel bleibt natürlich weiterhin: Ohne Fungizide zu arbeiten. So wie Sonja Geoffray.

Mal wieder geschafft: Brombeere, Waldrebe und Schlehe wissen, wo die Hacke hängt (zumindest für ein paar Wochen), und wir sind völlig im Arsch (aber glücklich).

Steiler Süden: Riesling-Kollektiv 2020!

Mitte März 2020. Es gibt nur noch ein Thema. Weltweit: Sars-Cov2. Und es kann sich nur noch um Stunden, maximal Tage handeln, bevor wir in unseren vier Wänden festsitzen werden – sofern wir welche haben – und darauf warten, dass sich das Internet vor lauter Serien-Streaming und Videokonferenzen zusammenfaltet. So einem Virenangriff ist keine Firewall gewachsen. Der Steile Süden ist ein Weinberg, und wenn er nicht geschnitten wird, gibt er keinen Ertrag. Er ist Teil einer Jahrhunderte alten Kulturlandschaft an den extrem steilen Hängen der Terrassenmosel. Kulturlandschaften gehen zu Grunde, wenn der Mensch sie nicht erhält. Und für den Steilen Süden bin ich jetzt seit einem Jahr „sein Mensch“. Unseren letzten Versuch, die Reben im Hang zu schneiden, hatten Svenja und ich wegen drohender Unterkühlung abgebrochen. Das war in der Karnevalswoche. Und als wir vorzeitig abzogen, hatten wir höchstens ein Drittel so getrimmt, wie wir es haben wollten.

Svenja, von Kälte und Wind gebeutelt, aber noch sehr vergnügt beim Rebschnitt im Steilen Süden, mitten in der Karnevalswoche. Aus dem Tal bumst der Kirmestechno hoch, und man weiß nicht: Kommt’s von den holländischen Frachtschiffen auf der Mosel oder aus den Kaschemmen in den Dörfern Bremm und Neef.

Mit der Wärme steigen die Säfte, und die Reben „bluten“, wenn sie geschnitten werden …

Jetzt ist es zum Glück wärmer. Aber damit steigt der Zeitdruck – nicht nur wegen der bevorstehenden Bewegungseinschränkung, sondern auch wegen der steigenden Vegetationsaktivität. Mein Freund und Geschäftspartner Stefan fährt mit in den Steilen Süden. Mit dem Auto brauchen wir fast zwei Stunden von Saarbrücken nach Neef. Wir brechen früh auf, sonst lohnt sich das nicht. Und wir haben schweres Gerät dabei, um nach erledigtem Rebschnitt noch den Dornen das Handwerk zu legen. Mechanisch versteht sich. Insbesondere Brombeeren haben die fiese Angewohnheit, sich an der Wurzel der Rebe zu schaffen zu machen und sich entweder neben der Wurzel oder direkt durch die Rebenwurzel mit Nährstoffen und Wasser zu versorgen. So genau weiß ich das nicht. Dreckszeug, teuflisches! Wer da nicht früh handelt, wird von einem exponentiellen Wachstum überrollt. Also im Weinberg gilt bezüglich Brombeere: Zero tolerance! Und das erinnert mich schon wieder an das Virus … oder heißt es den? Aber das ist im Moment, glaube ich, egal.

Stefan und Martin Mitte März 2020 im Steilen Süden nach erfolgreichem Rebschnitt; es fehlt nur noch die unterste Terrasse. Bald geht die Sonne unter, und kurz danach die Welt – „as we knew it“ (Michael Stipe)

Kulturrevolution: Steiler Süden, ein Reben-Umerziehungs-Lager

Der Rebschnitt steht am Anfang des Zyklus im Weinberg, die Weinlese an dessen Ende. Der Rebschnitt erfolgt idealerweise kurz vor dem Einsetzen der Vegetationsphase. Kurz bevor die Pflanze aus ihren Wurzeln die Kraft zieht, um auszuschlagen und Blätter auszutreiben, um sich dann mittels Photosynthese mit Energie versorgen zu können. Die neue gewonnene Energie kann sie teilweise wieder in ihre Wurzeln einlagern – für den Austrieb im nächsten Jahr. Aber damit sie das tun kann, darf man sie bei der Traubenproduktion nicht überfordern. Der Steile Süden ist geschwächt durch die Jahre der Nichtbewirtschaftung, und daher gilt: nicht auf Ertrag schneiden, sondern auf Erhalt. Früher war man auch im Steilen Süden auf Ertrag aus gewesen. Das erkennt man daran, dass, wie so oft in den Steilhängen der Mosel, zwei Fruchtruten geschnitten und die Enden nach unten zusammengebunden wurden. Ein Rebschnitt, dessen Ergebnis aussieht wie ein Herz, ein „Moselherzchen“. Hübsch, aber leider zu viele Austriebe und viel zu viel Ertrag. Deswegen heißt es jetzt Kulturrevolution: Wir erziehen die Reben auf eine einzelne Fruchtroute um.

Bis die Moselherzchen weinen

Die Reben „weinen“ schon stark bei jedem Schnitt. In den nächsten Tagen sollte möglichst kein Frost kommen. Dafür lässt sich das Holz schon prima biegen, und die „Umerziehung“ nimmt Formen an. Wir drücken aufs Tempo. Wenn die Ausgangssperre kommt, muss dieser Arbeitsschritt abgeschlossen sein. Der Kampf gegen die Dornen, das Kalken des leicht sauren Schieferbodens, der Austausch der morschen und gebrochenen Pfähle, all das kann warten oder muss notfalls ausfallen. Wir schneiden und binden und binden und schneiden. Dann machen wir Pause, trinken ein paar alkfreie Biere, teilen uns die Essensreste vom Vortrag und blinzeln in die Sonne Richtung Mosel. Irgendwann ist die zweite Terrasse fertig, und der Rücken – vom Im-Hang-Stehen – auch. Wir packen das schwere Gerät unbenutzt wieder zusammen, machen ein Foto von uns – das Foto mit dem Sonnenstrahl, der sich im Rebenblutstropfen auf der frischen Schnittfläche bricht, habe ich leider versaut. Dann fahren wir zurück in die schaurige Realität der Virus-Sondersendungen auf allen Kanälen.

18. März 14h10: Der Steile Süden ist geschnitten. Für die beiden letzten Stöcke reicht der Bindedraht nicht. Ich muss mit Bast aufbinden und Knoten schlingen. Die unterste Terrasse habe ich alleine geschnitten. In diesen Zeiten fährt man nicht mal mehr mit Freunden zusammen im Auto … Im Hintergrund links: die Verlängerung der Lage „Neefer Frauenberg“, eine der besten im Moseltal; unten der Weinort Neef. Der idyllische Eindruck wächst mit der Distanz des Betrachters zum Objekt.

Riesling-Kollektiv

Ich würde gerne ein Foto posten mit allen, die in irgendeiner Form dazu beigetragen haben, dass der Steile Süden wiederauflebt. Aber diese viralen Zeiten lassen ein Gruppenfoto nicht zu. Irgendwann holen wir das nach – bei der Weinlese vielleicht. Dafür brauchen wir auch noch mehr Leute – sonst kriegen wir die Ernte nie den Berg hochgeschleppt – und sie muss hoch, denn zum unteren Ende des Hangs führt kein Weg. Nach all dem „social distancing“, durch das wir nun paradoxerweise unsere Solidarität zum Ausdruck bringen, wird der Steile Süden 2020 hoffentlich der erste Jahrgang unseres Riesling-Kollektivs. Ausdruck der gemeinsamen Anstregung von Hannah, Mika, Undine, Svenja, Rolf, Martin (aus Neef), Stefan, Hermann (Grumbach), mir und denen, die noch zu uns stoßen …