Schlagwort: Naturwein

Halbzeitstand im Sabbatical: Realität schlägt Traum

Vor fast einem Jahr begann mein Sabbatical, mein Weinbau-Sabbatical. Ich wollte mich dafür einsetzen, dass an der Oberen Saar zu beiden Seiten der französisch-deutschen Grenze wieder kommerzieller Weinbau betrieben wird. Ich sah mich auf dem Moped durch Frankreich fahren (und weiter bis Georgien), auf Weingütern arbeiten und darüber bloggen. Vielleicht würde ich unterwegs sogar Partner finden für die Wiederbelebung des Weinbaus an der Oberen Saar. Im Hintergrund schwang noch eine romantische Vorstellung von der Entdeckung des ultimativen Naturweins mit. Aber als das Sabbatical im Juli 2019 anfing, hatte die neue Realität schon begonnen: Ich kümmerte mich um einen aufgegebenen Weinberg in Neef, an der Terrassenmosel, buchte einen Rebschnitt-Kurs an der Hochschule Geisenheim, lernte den Moselwinzer Hermann Grumbach kennen und zerbrach mir den Kopf darüber, wie aus meinen Rieslingtrauben des Jahres 2020 („vin vin“) ein vorzeigbarer Wein werden könnte. Die Lernkurve war steil wie der Steilhang in Neef, und sie ist es immer noch. Und die Realität war viel besser als alles, was ich mir erträumt hatte …

Der “Steile Süden” (mit orangenen Punkten markiert) am Frauenberg in Neef. Der Bergrücken dahinter links ist der Calmont, der steilste Weinberg Europas. Das Foto habe ich vom Ortseingang Bremm aufgenommen. Der “Steile Süden” hat Sonne, Gefälle und ein tolles Schieferskelett. Aber er sieht verdammt mager aus im Vergleich zu den anderen Parzellen. Vermutlich, weil er vier Jahre brach gelegen hatte. Dieses Jahr gibt es, wenn es “gut” geht, ein Dutzend Flaschen, 2021 wird’s hoffentlich besser.

Naturwein

Geoffroy, der beste Wirt im Pariser Becken, macht im Terminus in Saarbrücken eine Mischung aus Live-Konzerten, moderner französischer Küche und Weinbar. Er gab mir vor ein paar Jahren das Buch von Sébastien Lapaque Chez Marcel Lapierre, ein Buch über den Naturwein-Pionier aus Villié-Morgon, eine der Top-Adressen im Beaujolais. Mitten in den Siebzigern, als die chemische Vergiftung der Weinberge, Weinbauern und Weintrinker einen ersten Höhepunkt erlebte, gingen Lapierre und Pierre Overnoy (Jura) neue Wege: Sie setzten auf lebendige Böden und Biodiversität statt auf den Einsatz chemischer Produkte. Sie vertrauten auf die Natur, anstatt sie mit der Chemiekeule in Schach zu halten. Ihre Devise: Im Keller kann man keinen Wein verbessern. Bestenfalls kann man die Qualität, die man aus dem Wingert mitgebracht hat, erhalten. Lapierre achtete auf jede Kleinigkeit, um die Natur so weit wie möglich für seine Zwecke zu nutzen. Und dann als letzten Schritt – aber nur wenn es der Jahrgang zuließ – verzichtete er sogar auf das Zusetzen von Schwefel, um die Weinqualität für die Lagerung in der Flasche zu stabilisieren. Heute wird vin nature, Naturwein oft auf diesen letzten Schritt reduziert. Aber das ist falsch. So verstanden ist Naturwein nichts weiter als ein Modefirlefanz, ein Aufmerksamkeitstreiber für den Umsatz. Naturwein ist weder ein geschützter Begriff, noch bestehen irgendwelche Anforderungen an reduzierten Gifteinsatz wie etwa im Bio-Anbau. Solange kein Schwefel im Keller zugesetzt wird – egal wieviel davor im Weinberg verspritzt wurde, schmückt sich, wer Lust drauf hat, mit dem Naturwein-Label. Das Hauptproblem ist dabei aber nicht die Irreführung des Marktes. Unerfreulicher ist, was für einen meist hohen Preise Nase und Gaumen zugemutet wird. Insbesondere Weißweine stabilisieren sich kaum von selbst und schmecken als “Naturwein” oft nicht anders als hessischer „Ebbelwoi“. Das kann weder der Weg noch das Ziel sein. Ich schiebe also die Naturwein-Idee beiseite und mache mich auf die Suche nach einem Weinbau ohne Einsatz von Pestiziden. Dabei folge ich meinem Weingeschmack und keiner Naturwein-Ideologie. Um das konsequent zu machen und auch mit anderen Weinliebhaberinnen zu teilen, gründe ich zusammen mit meinem Freund Stefan im Februar 2020 die Crusauvage-Weine Gramer & Baltes GmbH.

Geoffroy neben der Tageskarte seines Terminus Saarbrücken. Bei Geoffroy gibt es crusauvage-Weine, unter anderem einen hervorragenden roten Naturwein, den “Gam’ Nature”, ein Gamay aus dem Hause Prappin (Bio und ohne Schwefelzusatz!). Bei crusauvage ist der ausverkauft, aber im Terminus noch zu bekommen. (Foto: René Lortat (Grand merci!))

Abrakadabra: Homöopathie im Weinberg

Einmaischen ganzer Trauben, also Beeren und Rappen, in Amphoren. Düngen mit den Ausscheidungen der Fledermaus, die im Kuhhorn vergraben und später verdünnt werden – wobei das je doller wirken soll, je verwässerter die Lösung ist. Je nach Mondphase dieses tun und jenes lassen. Derlei Aktivitäten zwischen Vormoderne und Homöopathie werden als Biodynamik im Weinberg gelabelt, suggerieren Exklusivität und sollen hohe Preise rechtfertigen. Die Methode findet immer noch neue Anhänger – zumindest auf den Websites der Betriebe. Was der Hokuspokus mit Fledermäusen und Mondphasen kaschieren hilft: Auch die Biodynamiker dürfen im Weinberg Kupfer und Netzschwefel einsetzen. Und im Keller dürfen sie tun, was jeder konventionelle Winzer auch tut. Aufzuckern, Schönen, Klären und Filtern. Das tun nicht alle. Aber wer’s tut, befindet sich nicht im Widerspruch zum anthroposophischen Oberguru Steiner.

Die beiden Gründer und Geschäftsführer der Weinimports und -vertriebsgesellschaft crusuavage-Weine: Stefan und Martin. Bei der Auswahl unserer Weine leiten uns * Geschmacksqualität * respektvoller Umgang mit Mensch und Natur * ein fairer Preis für Hersteller und Verbraucher. Wir beziehen die Weine direkt von kleinen Weingütern aus Deutschland und Frankreich, oft aus weniger bekannten Anbaugebieten. Die meisten sind Bio-zertifiziert.

Bio’s und das Schwermetall Kupfer

Als die Reblaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Reben in ganz Europa kahlfraß – übrigens ein Früheffekt der wirtschaftlichen Globalisierung, denn sie wurde aus den USA eingeschleppt – fand man die Lösung an der Quelle des Übels: Man importierte Wildreben aus dem USA, die an den Wurzeln Korkringe ausbilden, die der Reblaus den Appetit verderben, und pfropfte auf diese so genannten „Unterlagen“ die Edelreben wie Riesling oder Merlot auf. Aber wie so oft: Mit der Lösung eines Problems schuf man ein neues. Die Reben wurden anfällig gegen den „falschen Mehltau“ (Peronospora). Mit Schwefel und Kupfer – ein Schwermetall, das sich im Boden anreichert – ging man durch prophylaktische Spritzungen gegen den Pilzbefall vor. Berühmt berüchtigt: die Bouillie bordelaise, die Bordeauxbrühe, eine Mischung aus beiden Giften. Dann kamen synthetische Fungizide (meist zusammen mit Kupfer), die nach einander erst eine steile Karriere machten, dann aber verboten wurden. In der Bio-Landwirtschaft sind diese Mittel nicht zulässig. Der Einsatz von Kupferprodukten ist im Biolandbau aber weiterhin erlaubt. Und zwar bis zu vier Kilogramm Kuper pro Hektar. Man weiß um die Probleme (Anreicherung des Schwermetalls im Boden, Ausschwemmung in Gewässer, Abtötung von Mikroorganismen), aber man weiß nicht, wie man vom Kupfer loskommt. Zu groß ist die Nachfrage nach Bio-Produkten, und die Produktion darf nicht stocken. Es lohnt sich also immer zu fragen, wieviel Kupfer und in welcher Form ein Bio-Weingut einsetzt. Nur einmal erhielt ich die Antwort: gar keinen …

Auch wenn der Steile Süden mit seinen alten Rieslingreben nicht ohne “Pflanzenschutz” aus dem Spritzhubschrauber auskommt: Das meiste ist Bearbeitung von Hand wie etwa hier das Aushacken des gewaltigen Wurzelwerks der Brombeere. (Foto: Undine Löhfelm, Februar 2020. Steiler Süden, Neefer Frauenberg)

Neue, resistente Rebsorten

… Das war, als ich Sonja Geoffray kennen lernte. Sie kommt aus dem Wallis und lebt auf dem Chateau Thivin am Mont Brouilly. Ihre Schwiegereltern machen dort hoch angesehene Bio-Weine, seit Jahrzehnten. Sie hat eine Parzelle mit pilzwiderständigen Rebsorten bepflanzt: Sie heißen Prior, Chambourcin und Souvignier Gris und stammen alle aus den Zuchtbemühungen Norbert Beckers am Weinbauinstituts Freiburg. Die Reben zeichnen sich durch eine erhöhte Resistenz gegen Pilzbefall aus, aber sie sind nicht völlig resistent. Um den Pilzbefall zu verringern, lässt sie die Reben höher wachsen, als das in der Region üblich ist. Das geht, weil es durch Klimawandel so warm ist, dass zum Ausreifen der Beeren die Wärmereflexion aus dem Boden keine Rolle mehr spielt. Je weiter das untere Ende der Laubwand vom Boden entfernt ist, desto besser sind die Reben vor den sich im Boden befindenden Pilzsporen geschützt. Die Reben höher wachsen zu lassen, hat außerdem den Vorteil, dass Schafe zwischen den Reben weiden können, ohne die Reben abzufressen. Schafe halten das Grünzeug kurz, das zwischen den Reben wächst, und sie düngen den Boden. Und sie tun eins nicht: Sie verdichten den Boden nicht (wie etwa der Traktor), und erlauben so den Mikroorganismen, den Boden locker und lebendig zu halten.

Utopia: Rotwein-Cuvée ohne Pestizide der Winzerin Sonja Geoffray, Château Thivin, Mont de Brouilly

„Was passiert, wenn du doch mal Mehltau in Weinberg hast?“, frage ich.
„Ich schneide die befallenen Pflanzenteile ab und nehme sie aus dem Weinberg raus.“
Manchmal macht sie auch Pflanzensud aus Brennnessel oder Schafgarbe. Das hilft. Aber das vernichtet nicht alles. Sonja Geoffray lebt mit diesen Beeinträchtigungen und mit einem geringeren Ertrag. Und sie erzeugt aus diesen Reben mit indigenen Hefen, also ohne Zusatz von Reinzuchthefen, im Holzfass eine Cuvée namens “Utopia”. Für den 2018er bekam sie die Goldmedaille des Vereins der Winzer, die pilzwiderständige Rebsorten einsetzen. Von wem auch sonst? Prior und Co. sind nicht vergleichbar mit Gamay, Pinot Noir oder Cabernet Sauvignon. Sie sind anders. Aber sie verfügen über alles, was man für einen komplexen Wein braucht: Vollmundigkeit, Tannine, Säure, Fruchtaromen, eine tiefe, ins Bläuliche gehende Farbe. Und der Wein von Sonja Geoffray ist das beste Beispiel für Verbindung aus respektvollem Umgang mit der Natur und höchtem Anspruch an Qualität.
Stand Mitte des Sabbaticals bin ich überzeugt: Die gegen Pilzerkrankungen resistenten Neuzüchtungen sind zusammen mit neuen Anbauformen, den sogenannten “Erziehungssystemen” die Zukunft des Weinbaus. Und das wird Auswirkungen auf meine Pläne bei der Wiederbelebung des Weinbaus an der Oberen Saar haben … (Fortsetzungt folgt)

Reblandschaft bei Brouilly, Beaujolais, Juli 2020

“Erliege der Versuchung!” – Naturwein im Elsass

Nach der Weinverkostung bei Schliff / Schoettel drängt Olivier auf Fortsetzung des Programms. Wir sind ja schließlich wegen der Naturweine hier. Und so machen wir uns auf zu Kumpf und Meyer. Das Motto des Weinguts: “Erliege der Versuchung, sonst wirst du’s bereuen!” Angeblich stammt das Zitat von Epikur. Kann sein. Kein Zweifel besteht darüber, wo wir jetzt sind: im Reich der Naturweine. Die Weine heißen standesgemäß “anarchiste”, “hédoniste” oder auch “utopiste”. Winzerin Sophie Kumpf hat ordentlich zu tun. Eine Gruppe Belgier und zwei hipsterbärtige Craftbier-Brauer laden Kombi und Kleinbus voll. Dann sind wir dran und probieren freudig alles, was das Haus (noch) zu bieten hat. Sophie Kumpf kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, wenn sie sagt, dieser Wein sei leider schon ausverkauft und von jenem habe sie nur noch zwei Kisten. Als sie vor knapp zehn Jahren den Schwefel aus dem Keller austrieben, veränderte sich der Geschmack ihrer Weine grundlegend. Das war auch für Sophie Kumpf eine Herausforderung. Sie musste, wie sie sagt, neu schmecken lernen. Ihr ist das gelungen, ihren alten Kunden nicht. Die kehrten ihr den Rücken, und die Umstellung war sicher keine leichte Zeit. Heute läuft es dafür umso besser: Der Umsatz ist zurück; die Kundschaft ist jünger; und vermutlich ist sie auch ausgabefreudiger.

Motto-Wein bei Kumpf & Meyer: “Erliege der Versuchung, sonst wirst du’s bereuen!”

Der Anarchist als Muskateller

Den Riesling von Kumpf und Meyer habe ich schon an anderer Stelle gepriesen. Hervorheben möchte ich deshalb den “anarchiste” – nicht nur wegen seinem Namen. Dufttechnisch ein lupenreiner Muskateller, ein Bouquetwein eben, der einem die Aromen in die Nase ballert wie ein Gang durch die Obst- und Gewürzmärkte von Marrakesch. Sofort entspannen sich die Geschmacksknospen in Erwartung milder Süße. Aber dann knallen einem Säure und Mineralität gegen den Gaumen und hauen einen um wie eine Monsterwelle. Ein Kontrast wie Stirner und Kropotkin. Empfehlung: Am besten selbst der Versuchung erliegen!

Naturwein-Skeptikerin Julie umrahmt von Geoffroy und Olivier. Davor eine Flasche “Pétillant Naturel Fumé” von Christian Stahl, Franken. An der ist vor allem das Aussehen und der Name Natur. Christina Stahl ist Rationalist und macht phantastisch klarsinnige Weine!

Nach der Weinprobe ist vor der Weinprobe

Als wir im verwinkelten Fachwerkhaus von Olivier und Julie ankommen, setzen wir uns in die letzten wärmenden Sonnenstrahlen des Jahres und hauen einer Flasche Pétillant Naturel Fumé den Kopf ab. Ich habe sie vom Winzerhof Stahl in Auernhofen, Franken, mitgebracht. Trüb wie ein Schleusenbecken in der Dämmerung, aber geschmacklich klar und frisch wie ein Bergsee-Champagner. Danach sind wir wieder fit. Weiter geht’s mit einem Lindenlaub, Pinot Auxerrois 2017 (der mit dem schönen Elefantenetikett ganz oben auf der Seite). Zum Tajine, den wir am Abend essen, serviert Olivier einen trockenen Gewürztraminer von Rietsch. Hammer! Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich einmal für einen orangen Wein begeistern würde! Aber vermutlich finden alle NovizInnen einfacher Zugang zu Naturweinen aus Rebsorten, die man leicht wiedererkennen kann wie etwa Gewürztraminer oder Muskateller. Deren üppige Duftnoten bleiben auch ohne Schwefel erhalten und erlauben es einem so, sich anhand der gewohnten Geschmackskategorien zu orientieren.

Naturwein links und Mitte, Tradition rechts. Die Mischung macht’s!

Naturwein zwischen Oh là là und Oh My God

Als ich das Buch von Sebastien Lapaque über den Naturweinpionier Marcel Lapierre ausgelesen habe, ist mein Durst sehr groß. Am liebsten würde ich sofort eine Flasche von seinem Morgon trinken. Aber das Beaujolais ist weit weg, und außerdem ist Marcel 2010 gestorben. Immerhin führen seine Kinder Camille und Mathieu das Weingut weiter. Und siehe da, den Wein gibt’s sogar in Berlin, in einer Spezial-Weinhandlung für Naturwein. Draußen ist es 30 Grad plus x. Dank meines frisch erworbenen Wissens über Naturweine schwant mir nichts Gutes. Lapierre lieferte seine jungen schwefelfreien Weine in einer ununterbrochenen Kühlkette an ein paar ausgewählte Restaurants in Paris. Die kühlten sie dort weiter, bis sie auf dem Tisch der Gäste landeten. Wie die Preußen das wohl so halten?
Die Luft in der Weinhandlung fühlt sich frisch an. Es sind keine 8 Grad, auch keine 14, aber es wird gehen.
„Ich hatte wegen dem Lapierre angerufen.“
„Ja, den haben wir.“
„Und? Muss ich was beachten?“
„Nein. Einfach aufmachen, und der ist sofort toll!“
Ich weiß, dass das nicht stimmt. „Vierundzwanzig Stunden vorher öffnen!“, schreibt Lapaque. Ich nehme also zwei Flaschen, und, weil ich nicht so oft nach Charlottenburg fahren will, nehme ich auch noch einen Cabernet Franc mit und irgendwas aus dem Süden. So schlimm wie die “orange wines”, die ich bisher getrunken habe, werden sie nicht sein!
Zu Hause in Neukölln packe ich erst mal alles in den Kühlschrank. Am nächsten Abend ziehe ich einer der Lapierre-Flaschen den Korken und schenke mir ein Glas voll. Autsch! Sauer, adstringierend, Fehltongewimmel, dass es in der Nase juckt. Gut, so kenne ich die Naturweine. Und so stands im Buch. Also Mullverband drauf und zurück in den Kühler.

Der Morgon der Lapierres: Nicht jedes Jahr ohne Sulfite, aber jedes Jahr ohne Fehler!

Vierundzwanzig Stunden später …

Sensationell ist das, was ich jetzt schmecke. Das kann doch nicht derselbe Wein sein, denke ich. So lebendig, mit versteckten Aromen, die nach und nach zum Vorschein kommen (und wieder verschwinden) mit der steigenden Temperatur. Alle Fehltöne sind verschwunden. Die Oberfläche des Roten swingt im Glas und schimmert wie Kupfer und Samt. Begeisterung ist natürlich nie das Ergebnis objektiver Sinneseindrücke – im Wein stecken dafür zu viele euphorisierende Prozente. Aber dieser Wein ist wirklich “toll”, und mir tun die leid, die ihn gleich nach dem Öffnen trinken sollten, wie im Laden empfohlen. Ich war bisher weder ein Fan der Rebsorte Gamay, noch des Anbaugebiets Beaujolais. Aber das wird jetzt mit jedem Schluck anders. Ich lerne zum ersten Mal, was hier entstehen kann, wenn die richtigen Hände am Werk sind. Oder liegt es daran, dass der Wein ein Naturwein ist?

Was ist Naturwein? Matthieu Lapierre, Sohn von Pionier Marcel, gibt eine plausible Antwort. Mais c’est en français, putain! Daher hier die Crux:
Mathieu Lapierre bringt es auf den Punkt: „Schwefel ist fast nie hilfreich, aber manchmal ist er unerlässlich“. Bei Lapierre wird er verwendet wie ein Feuerlöscher. Einen Wein, der aus Gründen der Geschmacksqualität etwas Schwefel enthält, nicht mehr als Naturwein zu bezeichnen, obwohl sonst auf alle Zusätze im Weinberg und im Keller verzichtet wird, ist fragwürdig. Andererseits jeden Wein als Naturwein zu bezeichnen, nur weil ihm kein Schwefel zugesetzt wurde, ist Unsinn, weil die Gesamtbetrachtung der Arbeit damit in den Hintergrund gerückt wird.

Bio? Biodynamie? Naturwein?

Bio heißt, man schießt im Weinberg nicht mit Pestiziden auf alles, was einen stört: Tiere, Pflanzen und Pilze. Bio heißt, man arbeitet mit dem Verwirren von Tieren durch z.B. Pheromone (oder früher Vogelscheuchen), dem manuellen Ausreißen von Pflanzen (wie Brombeerhecken) und dem Spritzen von z.B. Schwefel, Kupfer oder Backpulver. Was dann im Keller geschieht, ist weniger streng geregelt. Aufzuckern, Stabilisieren, Klären (“Gommage”), das ist alles grundsätzlich erlaubt.
Bei den Biodynamikern sind die Bio-Auflagen graduell strikter als beim Bio allein. Dafür kommt bei Biodynamisch noch eine ordentliche Dosis Rudolf-Steiner-Hokus-Pokus mit ins Spiel. “Wenn die Mühen der Ebenen zu beschwerlich werden, knipst der eine oder andere schon mal das Licht der Mystiker an”, meinte Hermann Grumbach zu diesem Thema.
Der Ansatz der Naturwinzer dagegen ist radikal: Keine Chemie im Weinberg und keine Chemie im Keller! Was den Zusatz von Schwefel angeht, scheiden sich die Geister. Man begegnet gelegentlich der Ansicht, dass Naturwein immer komplett frei davon sein muss. Ja sogar die Definition Naturwein = schwefelfrei, egal was sonst so in der Produktion passiert, kann man antreffen. Im folgenden Video erklärt Pierre Overnoy den Zusammenhang zwischen einer biologischen Arbeitsweise im Weinberg und dem Weglassen von Schwefel. Nur die Trauben, die noch den vollen Satz an natürlicher Chemie mit in den Keller bringen, können sich seiner Auffassung nach später als Wein auch selbst stabilisieren. Alle anderen nicht. Unnötig zu sagen, dass bei Overnoy radikal selektiert wird! Die Erträge sind minimal. Und die Preise entsprechend.

Pierre Overnoy, Naturwinzer der ersten Stunde aus dem Jura, der mittlerweile sein Weingut in die Hände von Emmanuel Houillon gelegt hat. Er spricht über die Anfänge der Naturwein-Bewegung in den späten Sechzigern, die eigentlich nichts anderes war als die Fortführung eines natürlichen Vinifizierungsprozesses, wie ihn Generationen vor ihm praktiziert hatten – nur dass sie nun wissenschaftlich untermauert waren durch die Forschungen von Jules Chauvet. Overnoy erklärt auch, warum man den Schwefel nicht ohne Weiteres völlig weglassen kann. Das hat was mit den ph-Werten im Jura zu tun … Wer wissen will, was mit jemandem passiert, der das Glück hat, einen Wein von Overnoy / Houillon in die Hände zu bekommen, dem empfehle ich die Beschreibung einer Verkostung auf Drunken Monday. Ich selbst hatte das Glück (noch) nicht.

Unterdessen in Berlin: Oh my God

Ich war bester Laune, nachdem ich den Morgon von Lapierre geleert hatte, und beschloss die zweite Flasche meinem Freund Geoffroy nach Lothringen mitzunehmen, der mir das Buch über Lapierre geliehen hatte. Dann machte ich den Cabernet Franc auf. Jetzt ist es allerdings so: Im Unterschied zur Rebsorte Gamay stehe ich total auf die Rebsorte Cabernet Franc und bilde mir ein, sie sofort an ihrer typischen Nase zu erkennen, sobald die erste Duftwolke zu mir herüberweht. Da ich mir direkt nach dem Öffnen nicht viel erwarte, nehme ich nur einen kleinen Schluck und schiebe die mit Mullverband verschlossene Bottle zurück in den Kühler. Mit der aus Südfrankreich mache ich dasselbe. Vierundzwanzig Stunden später ist das Problem immer noch da. Der Cabernet Franc ist geruchlich gar nicht als solcher zu erkennen. Auf der Zunge blubbernde Salatsoße, denn der Wein gärt offensichtlich immer weiter, und dazu eine Bitterkeit, als wäre das Holzfass mit ausgepresst worden. Mit dem Südfranzosen ist es nicht besser. Gut, denke ich. Es sind ja nicht alle Lapierres. Ich gebe denen also noch mal einen ganzen Tag im Kühler. Und dann noch mal einen. Aber nach einer Woche reicht’s. Ich gebe auf und kippe die Weine, die immerhin zwischen zwanzig und dreißig Euro gekostet hatten, ins Berliner Abwasser.

Naturwein-Etikett aus der Weinhandlung “Étiquette”. Typisch Naturwein ist die auffällige Abweichung von Standardetiketten und der bildliche Hinweis auf das, worauf es ankommt: die riesige Wurzel, die nur gedeihen kann, wo der Boden manuell oder mechanisch bearbeitet wird. Auf der Rückseite der Flasche sehen wir neben einer Reihe von Informationen auch: Bio-Zertifizierungen, einen Hinweis auf den Verzicht von Schwefel-Zusatz und die Klassifizierung “Vin de France”. Das ist die Klassifizierung mit dem geringsten Prestige im französischen Weinrecht. Oft findet sich diese Benennung auf den Etiketten von Naturweinen, weil zum Beispiel die Prüfkommission den Geschmack der Weine untypisch findet oder die Betriebe ihre Weine erst gar nicht mehr zur Verkostung einreichen. Aber Naturwein-Kunden stört das nicht. Sie zahlen den Preis nicht mehr für ein obsolet gewordenes Klassifizierungssystem von Grand Crus und AOC’s sondern für die naturnahe Arbeitsweise und den Qualitätsanspruch einzelner Weingüter.

“Étiquette”: Etikett und Etikette

Auf der Pariser Île Saint Louis gibt es einen Weinhändler (“caviste”) namens Etiquette. Ein Abstecher dorthin lohnt sich. Der Chef Hervé ist schön schrullig, und sein Laden liegt so, dass man das Notre Dame-Wrack auf der Nachbarinsel gleich mitbestaunen kann. Bei Hervé findet man nicht nur tolle Weinetiketten – auf die legt er besonderen Wert – sondern auch Inhalte, die sich zu entdecken lohnen, selbst wenn man die Einkäufe danach stundenlang durch Paris schleppen muss. Dabei sind seine Weine allesamt Weine, die sich nicht an der herkömmlichen Weinbau-Etikette orientieren, sondern Naturweine ohne oder mit sehr geringer Schwefeldosierung. Dass er seinen Laden “Etiquette” nannte, ist auch in dieser Hinsicht kein Zufall. Sicher, auch bei einem konventionellen Wein ist das Etikett das stärkste Verkaufsargument am POS (Point of Sale). In der Kombination mit Naturwein ist es dies aber umso mehr, da hier andere Qualitäten zählen als das feudal anmutende Drei-Klassen-System der Weinklassifizierung aus Grand Cru, AOP, Vin de France. Beim Naturwein ist die gute Story (fast) alles: das Pferd, das den Boden zwischen den Reben aufreißt, die Reifung des Weins in der grobporigen Tonamphore, das hinter sich gelassene Leben als Werbetexterin in Paris. Aber Vorsicht: Naturwein ist mehr als eine Modeerscheinung und Storytelling. Die Herausforderung besteht darin, die guten Hersteller zu finden, und das ist hier noch schwieriger als bei den konventionellen. Deshalb hier noch eine Empfehlung:

Oh là là. Das ist kein typischer Elsässer Riesling. Was für ein Glück! So lebendig wie diesen gibt es die nämlich sonst nicht: Bio-Riesling ohne zugesetzte Sulfite von Kumpf & Meyer. Olivier hat den gestiftet zur Bruschetta mit Sardinen à la Geoffroy – die wiederum gabs und gibts nicht im Handel, sondern nur bei ihm zu Hause oder vielleicht bald im TerminÜs in Saarbrücken.