Kategorie: Weintouren

In velo veritas

Aufs Rad steigen und losfahren. Ziel: Marseille. Ideallinie Südsüdwesten. Genau von da kommt leider auch der Wind. Kommt er sonst nie. Durch Lothringen, vorbei an Mirabellenhainen, Weizenfeldern, Viehweiden. Durchs krumme Elsass, eigentlich auch noch Lothringen. Nur die Störche scheinen das Geheimnis der Grenze zwischen den Départements „Bas Rhin“ und „Moselle“ zu kennen. Auf der lothringischen Seite sieht man sie nie. Hügel hoch und wieder runter oder entlang des Canal des houillères de la Sarre und des Canal de l’est. Durch Gegenden, wo es nicht einmal mehr eine Boulangerie gibt. Auf grob asphaltierten Autostraßen, über Waldwege oder quer durch die Wiese (laut Fahrrad-Navi bin ich richtig). Begleitet von Schwalben und satten Wespen – das üppige Obstjahr hat sie friedlich gestimmt. Spätsommer. Lange Schatten, die so gut zu Lothringen passen. Und darüber der große Himmel, als schwappe darunter noch immer das alte Meer – das hier zu Beginn des Mesozoikums alles bedeckte – gegen die größeren Hügel, die damals als Insel herausragten.

Canal de l’Est, zwischen Mosel und Saône. Là, ca roule …

Chardonnay von der Saône

Ich verfluche das Fahrradnavi, das mich schon wieder auf eine Seitenstraße gelockt hat, die zu Beginn asphaltiert war, nun aber aus spitzen Steinbrocken besteht und steil nach oben führt. Immer wieder dreht das Hinterrad durch. Irgendwann ist der Anstieg aber doch vorbei, und die Abfahrt führt durch Rebhänge, die ich hier nicht erwartet hätte. Entlang der Saône in der Franche-Comté? Käse, klar, aber Wein? Ich bin den Monts de Gy, und der nächste Ort ist Charcenne, Sitz einer der größten Rebzuchtanlagen des „Hexagons“, wie die Franzosen in geometrischer Aufklärertradition ihr Territoire nennen. Hätte ich hier jetzt nicht erwartet.

Monts de Gy – Trockenwiesen, Weiden – und an geeigneter Stelle auch mal ein Rebberg

Ein Schild neben der Straße: „Pizza – Flamme“. Ein Plastiktisch, zwei Stühle. Ein Typ mit gelbem Radlerkäppi schaut aus dem alten Renault Transporter raus, in dem er die Teiglinge platt macht, belegt und in den Ofen schiebt. Während ich auf meine Bestellung warte, suche ich mit dem Handynetz nach Bio-Produzenten in dieser Weinregion, von deren Existenz ich bis eben noch gar nichts wusste. Acht Kilometer von Charcenne Richtung Saône liegt Motey-Besuche, und dort gibt es die Domaine Lahaye. Mist, da bin ich jetzt schon dran vorbei, und Umwege geben meine Beine heute nicht mehr her. Monsieur Lahaye verrät mir aber am Telefon, dass ich seinen Wein im „Coin bio“ in Dôle finde.

Dôle. Blick auf den Doubs. Flussabwärts kommt schon bald die Mündung in die Saône, die in Lyon in die Rhône mündet, die schließlich in der Camargue ins Mittelmeer mündet …

Dôle

Die Neugier auf den Chardonnay der Lahayes motiviert mich. Ich trete in die Pedale und stelle mir die Strecke bis zum Mittelmeer vor. Saône, Doubs. Dann wieder die Saône, Rast in Lyon, und: rollen lassen, das Rhône-Tal hinunter … So zumindest der Plan. Aber ich komme mit einem Plattfuß in Dôle an. Der Gegenwind aus Südsüdwest lässt nicht nach. Schwerer Regen ist für Lyon angekündigt. Und in Marseille, liest man, steigen schon wieder die COVID-Zahlen. Ich stelle das Rad im Hotel ab, besorge mir den Chardonnay im Bioladen und beschließe, einen Ruhetag einzulegen. Den Wein verwahrt die freundliche Rezeptionistin in der Truhe mit dem Langnese-Eis. Später serviert sie ihn mir – und sich – an der Hotelbar im edlen Glas. Der Chardonnay ist frisch und klar, mit einem Hauch Eichenholz. Ich will ihn sofort einkaufen für den Shop. Aber ich krieg den Winzer nicht mehr ans Telefon.

Ein Chardonnay aus der Franche-Comté, den ich gerne im Programm des crusauvage-Shops hätte … vielleicht wirds ja irgendwas was …

Jura statt Mittelmeer

Nach dem Ruhetag entscheide ich mich gegen die Flachetappen entlang der Flüsse und biege ab in den Jura. Lieber Berge als Gegenwind. Lieber schweizer Gutturallaute als pausenlose COVID-Warnungen. Mein neues Ziel heißt jetzt Yvoire, Küstenstädtchen auf der französischen Seite des Genfer Sees, zu erreichen mit der Fähre von Lausanne. Auf der direkten Radroute liegt Arbois, die Weinhauptstadt des Jura. Hier kultivieren sie eine eigenwillige Variante des Chardonnay, außerdem den „Vin de Paille“, einen Süßwein, dessen Trauben nach der Lese auf Strohmatten getrocknet werden, um den Zuckergehalt zu steigern. Und natürlich den legendären Vin Jaune, noch viel eigentümlicher als die anderen Weine von hier, stark oxidativ und an Sherry erinnernd.

Arbois, Hauptstadt des Jura-Weins, der in den letzten Jahren Kultstatus erlangt hat und für den zum Teil abenteuerliche Preise gezahlt werden.

Bei Pierre Overnoy

Von Arbois führt eine kleine, steil ansteigende Straße in den Ort Pupillin, Weltzentrum der Ploussard-Herstellung, neben dem Trousseau die wichtigste Rotweintraube im Jura. Mitten in Pupillin liegt das Weingut von Pierre Overnoy, dem Vordenker und Vormacher in Sachen Naturwein. In den 70er Jahren verbannte er alle chemischen Hilfsmittel aus dem Keller und verzichtete selbst auf den Schwefel bei der Flaschenabfüllung. Die Tür zum Schuppen steht offen. Ich rufe hinein und bekomme Antwort aus der Küche, wo Pierre Overnoy gerade den Sauerteig bearbeitet. In wenigen Tagen beginnt die Weinlese, und die Helfer müssen mit gutem Brot versorgt werden.

Pierre Overnoy in seiner Küche in Arbois-Pupillin. Bald beginnt auch im Jura die Weinlese, fast zwei Monate früher als im letzten Jahr. Mit 83 mag er selbst nicht mehr in die steilen Wingerte steigen. Die Verantwortung für die Domaine hat er schon vor zwanzig Jahren an Emmanuel Houillon abgegeben. Heute kümmert er sich um die Verpflegung der Erntehelfer mit Sauerteig-Brot.

Kein Neubau aus Glas, Holz und Sichtbeton wie so oft bei den neuen Stars der Weinszene mit ihren horrenden Preisen. Gebrauchte Gerätschaften, Möbel, die hier schon sehr lange stehen. Ein Schäferhund, der unter dem Tisch döst. Kein Firlefanz, kein Blendwerk. Weniger ist hier scheinbar immer noch mehr. So wie in den Anfangsjahren des Naturweins. Pierre Overnoy betrachtet seine Arbeit als eine Rückkehr zu den Verarbeitungsmethoden seiner Vorfahren, als die Pharmakonzerne den Weinbau noch nicht als lukrativen Absatzmarkt für sich entdeckt hatten. Ich habe Glück, er hat Zeit für ein Schwätzchen, Wein gibt’s aber nicht. In den letzten Jahren waren die Erträge gering. Wenn es dieses Jahr besser wird, kriegen wir was ab. Vielleicht. Er gibt mir Emmanuels Handynummer. Ich soll nach der Maischegärung mal anrufen. Kupfer? Nun ja, Kupfer spritzen sie auch. Geht nicht ohne. Ploussard oder Poulsard ist nicht gerade berühmt für seine Pilzresistenz. Aber: Seit Jahrzehnten verwenden sie nur 400g pro Hektar und nicht die 6 kg, die erlaubt sind. Und im Keller nach wie vor keine Chemie!

Letzte Kilometer

Von Pupillin geht’s über ein paar Pässe in immer menschenverlassenere Gegenden des Jura. Bis zum Abend schaffe ich es nur noch bis zum Lac de Saint Point, so einer Art Wiederbeginn der Zivilisation. Im Hotelrestaurant probiere ich diverse Ploussards, von denen mich keiner umhaut. Früh am nächsten Morgen radle ich über den letzten Pass und fahre dann fünfzig Kilometer am Stück talwärts, von der Skistation Métabief bis zum Neuenburger See, wo mich endlich der Regen einholt. In Yverdon-Les-Bains steige ich in den Zug und bin am Abend wieder zu Hause. Auch ohne Wein von Overnoy oder Lahaye bin ich ganz zufrieden. Schließlich geht an der Mosel bald die Weinlese los.

„Erliege der Versuchung!“ – Naturwein im Elsass

Nach der Weinverkostung bei Schliff / Schoettel drängt Olivier auf Fortsetzung des Programms. Wir sind ja schließlich wegen der Naturweine hier. Und so machen wir uns auf zu Kumpf und Meyer. Das Motto des Weinguts: „Erliege der Versuchung, sonst wirst du’s bereuen!“ Angeblich stammt das Zitat von Epikur. Kann sein. Kein Zweifel besteht darüber, wo wir jetzt sind: im Reich der Naturweine. Die Weine heißen standesgemäß „anarchiste“, „hédoniste“ oder auch „utopiste“. Winzerin Sophie Kumpf hat ordentlich zu tun. Eine Gruppe Belgier und zwei hipsterbärtige Craftbier-Brauer laden Kombi und Kleinbus voll. Dann sind wir dran und probieren freudig alles, was das Haus (noch) zu bieten hat. Sophie Kumpf kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, wenn sie sagt, dieser Wein sei leider schon ausverkauft und von jenem habe sie nur noch zwei Kisten. Als sie vor knapp zehn Jahren den Schwefel aus dem Keller austrieben, veränderte sich der Geschmack ihrer Weine grundlegend. Das war auch für Sophie Kumpf eine Herausforderung. Sie musste, wie sie sagt, neu schmecken lernen. Ihr ist das gelungen, ihren alten Kunden nicht. Die kehrten ihr den Rücken, und die Umstellung war sicher keine leichte Zeit. Heute läuft es dafür umso besser: Der Umsatz ist zurück; die Kundschaft ist jünger; und vermutlich ist sie auch ausgabefreudiger.

Motto-Wein bei Kumpf & Meyer: „Erliege der Versuchung, sonst wirst du’s bereuen!“

Der Anarchist als Muskateller

Den Riesling von Kumpf und Meyer habe ich schon an anderer Stelle gepriesen. Hervorheben möchte ich deshalb den „anarchiste“ – nicht nur wegen seinem Namen. Dufttechnisch ein lupenreiner Muskateller, ein Bouquetwein eben, der einem die Aromen in die Nase ballert wie ein Gang durch die Obst- und Gewürzmärkte von Marrakesch. Sofort entspannen sich die Geschmacksknospen in Erwartung milder Süße. Aber dann knallen einem Säure und Mineralität gegen den Gaumen und hauen einen um wie eine Monsterwelle. Ein Kontrast wie Stirner und Kropotkin. Empfehlung: Am besten selbst der Versuchung erliegen!

Naturwein-Skeptikerin Julie umrahmt von Geoffroy und Olivier. Davor eine Flasche „Pétillant Naturel Fumé“ von Christian Stahl, Franken. An der ist vor allem das Aussehen und der Name Natur. Christina Stahl ist Rationalist und macht phantastisch klarsinnige Weine!

Nach der Weinprobe ist vor der Weinprobe

Als wir im verwinkelten Fachwerkhaus von Olivier und Julie ankommen, setzen wir uns in die letzten wärmenden Sonnenstrahlen des Jahres und hauen einer Flasche Pétillant Naturel Fumé den Kopf ab. Ich habe sie vom Winzerhof Stahl in Auernhofen, Franken, mitgebracht. Trüb wie ein Schleusenbecken in der Dämmerung, aber geschmacklich klar und frisch wie ein Bergsee-Champagner. Danach sind wir wieder fit. Weiter geht’s mit einem Lindenlaub, Pinot Auxerrois 2017 (der mit dem schönen Elefantenetikett ganz oben auf der Seite). Zum Tajine, den wir am Abend essen, serviert Olivier einen trockenen Gewürztraminer von Rietsch. Hammer! Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich einmal für einen orangen Wein begeistern würde! Aber vermutlich finden alle NovizInnen einfacher Zugang zu Naturweinen aus Rebsorten, die man leicht wiedererkennen kann wie etwa Gewürztraminer oder Muskateller. Deren üppige Duftnoten bleiben auch ohne Schwefel erhalten und erlauben es einem so, sich anhand der gewohnten Geschmackskategorien zu orientieren.

Naturwein links und Mitte, Tradition rechts. Die Mischung macht’s!

Elsass : unverkitschte Rotwein-Verkostung mit sentimentalen Noten

Sonntagnachmittag Anfang Oktober bei Geoffroy und Elodie im lothringischen Sarreguemines. Zwischen den Resten vom Dessert steht eine Batterie Naturwein-Flaschen. Olivier hat sie aus dem Elsass mitgebracht. Jetzt sind sie leer. In unserer Begeisterung und Gier beschließen wir, die Naturweinszene im Elsass zu erkunden. Drei Wochen später sitzen Geoffroy, Elodie und ich im Auto. Richtung Elsass, nicht buckliges Elsass, sondern richtiges, also Rheintal-Elsass: Kitschlandschaft par excellence: Geranien, Fachwerk, goldige Weine mit Kostüm-Etiketten, Speisekarten mit Sauerkraut, dazu Front National-Bürgermeister, anthroposophisch werkelnde Winzer und dazwischen Bustouristen, denen vor Verzauberung der Mund offensteht. Das Elsass ist ein Horror, egal von wo man kommt. Aber wenn man aus dem verlotterten und belächelten postindustriellen Lothringen oder von der Saar kommt – Gegenden, für die sich keine Sau interessiert – geht einem der elsässische Modelleisenbahn-Look schon bei der Abfahrt von den Vogesen runter nach Saverne mächtig auf den Sack. Zum Glück haben wir nicht vergessen, warum wir hierherfahren. Olivier hat uns eingeladen! Also: Alles wird gut!

Unsere Vorbilder: Mimi, Fifi, und Glouglou. Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen mit geschwärzter Augenpartie. Gezeichnet von Michel Tolmer (glouguele.fr)
Und wir: Geoffroy, Martin, Olivier. Rollenzuordnung und Farbanpassung der Kostüme noch nicht ganz abgeschlossen. (Foto:Julie)

Der „Rouge d’Ottrott“

Kaum haben wir das Haus von Olivier und Julie gefunden, gehts auch schon weiter. Es sind nur paar Kilometer bis Ottrott, einem kleinen Ort, geschützt gelegen am Fuß des Mont Sainte Odile, berühmt für seine von Eisenadern durchzogenen schweren Böden und für seinen Rotwein, den Rouge d’Ottrott. Um uns den zu erarbeiten sind wir schließlich hier – nicht etwa zum Vergnügen! Olivier hat uns zur Weinprobe im Restaurant Schliff angemeldet. Hier ist auch das Weingut von Maire-Hélène Schoettel zuhause.
Die Chefin der Domaine fängt sofort an, Rotweine aufzuziehen (Weißen führt das Haus gar nicht). Circa zwölf Flaschen sind es, die am Ende vor uns stehen, und sogar eine Magnum ist dabei. Von einem einfachen „Rouge d’Ottrott“ steigen wir qualitativ und preislich in sanften Serpentinen hoch bis zu einer Flasche, die eine „36“ auf dem Etikett trägt – das ist die Anzahl der Monate im Fass.
„Sie kommen klar?“, fragte die Chefin, kennt aber schon die Antwort. „Das ist die Trinkrichtung! Viel Spaß!“ Dann ist sie weg und unterstützt den Service im sehr vollen Restaurant.

Sentimental Journey

Flashback in die Siebziger: Mein Vater gießt mir einen „Schluck“ von seinem Rotwein in das Mineralwasser, das ich als Kind immer zu trinken bekam. Limonaden galten bei uns zuhause als imperiale Lebensmittelgifte, die die Geschmacksnerven, die Gesundheit und am Ende die gesamte Kultur ruinieren würden. Durch den „Schluck“ wurde aus meinem faden Sprudelzeug eine tiefrot gefärbte säuerlich-fruchtige Brause. Und da ich nun Alkohol im Glas hatte, durfte ich auch anstoßen – wie ein Großer. Aber das tollste war: Auch in meiner dünnen Rotwein-Schorle enfalteten die Weine ihre unterschiedlichen Aromen. Die Pinot Noirs aus dem Elsass, wo meine Eltern sich sonntags mit Freunden zum Mittagessen trafen, schmeckten anders als die Chiantis und Beaujolais‘, die sie zu Hause tranken. Und nur die aus dem Elsass machten meinen Sprudel so schauerlich sauer und bitter. Ich fands toll.

Blick in die nahe Zukunft, Samstag, 26. Oktober, 12h30: Weinprobe des Weinguts Marie-Hélène Schoettel als Weinbegleitung im Restaurant Schliff, Otrott.

Seither ist viel passiert.

Olivier, Geoffroy und ich sind uns einig. Der Wein mit der fetten 24 auf dem Etikett und einer namens „Romy“, beide aus dem Jahr 2017, sind unsere Favoriten. Ausgeprägte Fruchtnoten, domestiziertes Tannin, harmonisierend eingesetztes Eichenfass. Aber auch etwas Säure! Die Weine des Weinguts Schoettel – allesamt Spätburgunder (Pinot noir) – werden im Weinberg chemisch maximal mit der „Bouille Bordelaise“ (Bio-zulässiger Mix aus Kupfer und Schwefel) behandelt. Im Wesentlichen setzt das Weingut auf mechanische oder manuelle Bodenbearbeitung. Im Keller erhält das fertige Produkt eine Schwefelimpfung zur Stabilisierung. Das war’s. Keine Aufzuckerung, keine Geschmeidigmacher, keine Filtrierung, kein Quatsch! Aber auch kein Naturwein – der steht für den Nachmittag auf dem Programm.
„Sie kommen noch klar?“ Die Chefin ist wieder da und redet uns reihum mit „jeune homme“ an. Sie bringt die Karte, damit wir schon mal das Essen aussuchen können und hat die glänzende Idee, dass wir einfach in der Probierstube essen sollen. Wein brauchen wir keinen zu bestellen, den haben wir ja schon in dutzendfacher Ausführung vor uns stehen. Die Speisekarte ist so schnörkellos wie die Vinifizierung: Zwei Seiten. Basta. Und was dann auf den Tisch kommt, ist frisch zubereitet und auf den Punkt gewürzt. Wir probieren beim Essen weiter, und das Crachoir ist das einzige, was an diesem Mittag trocken bleibt.
Dank Olivier, Schliff und Schoettel hatten wir einen völlig unverkitschten Ausflug mit sentimentalen Noten (bei mir) und einem feuchten Abgang. Elsass à l’ancienne und at its best!
PS: Zu den elsässischen Naturweinen, kamen wir am Nachmittag auch noch. Aber das steht in Teil zwei …

Elsass im Herbst. Reben und Vogesen.
Mehr über den Wein mit diesem schönen Etikett und weitere Naturweine aus dem Elsass in Teil zwei …

Naturwein zwischen Oh là là und Oh My God

Als ich das Buch von Sebastien Lapaque über den Naturweinpionier Marcel Lapierre ausgelesen habe, ist mein Durst sehr groß. Am liebsten würde ich sofort eine Flasche von seinem Morgon trinken. Aber das Beaujolais ist weit weg, und außerdem ist Marcel 2010 gestorben. Immerhin führen seine Kinder Camille und Mathieu das Weingut weiter. Und siehe da, den Wein gibt’s sogar in Berlin, in einer Spezial-Weinhandlung für Naturwein. Draußen ist es 30 Grad plus x. Dank meines frisch erworbenen Wissens über Naturweine schwant mir nichts Gutes. Lapierre lieferte seine jungen schwefelfreien Weine in einer ununterbrochenen Kühlkette an ein paar ausgewählte Restaurants in Paris. Die kühlten sie dort weiter, bis sie auf dem Tisch der Gäste landeten. Wie die Preußen das wohl so halten?
Die Luft in der Weinhandlung fühlt sich frisch an. Es sind keine 8 Grad, auch keine 14, aber es wird gehen.
„Ich hatte wegen dem Lapierre angerufen.“
„Ja, den haben wir.“
„Und? Muss ich was beachten?“
„Nein. Einfach aufmachen, und der ist sofort toll!“
Ich weiß, dass das nicht stimmt. „Vierundzwanzig Stunden vorher öffnen!“, schreibt Lapaque. Ich nehme also zwei Flaschen, und, weil ich nicht so oft nach Charlottenburg fahren will, nehme ich auch noch einen Cabernet Franc mit und irgendwas aus dem Süden. So schlimm wie die „orange wines“, die ich bisher getrunken habe, werden sie nicht sein!
Zu Hause in Neukölln packe ich erst mal alles in den Kühlschrank. Am nächsten Abend ziehe ich einer der Lapierre-Flaschen den Korken und schenke mir ein Glas voll. Autsch! Sauer, adstringierend, Fehltongewimmel, dass es in der Nase juckt. Gut, so kenne ich die Naturweine. Und so stands im Buch. Also Mullverband drauf und zurück in den Kühler.

Der Morgon der Lapierres: Nicht jedes Jahr ohne Sulfite, aber jedes Jahr ohne Fehler!

Vierundzwanzig Stunden später …

Sensationell ist das, was ich jetzt schmecke. Das kann doch nicht derselbe Wein sein, denke ich. So lebendig, mit versteckten Aromen, die nach und nach zum Vorschein kommen (und wieder verschwinden) mit der steigenden Temperatur. Alle Fehltöne sind verschwunden. Die Oberfläche des Roten swingt im Glas und schimmert wie Kupfer und Samt. Begeisterung ist natürlich nie das Ergebnis objektiver Sinneseindrücke – im Wein stecken dafür zu viele euphorisierende Prozente. Aber dieser Wein ist wirklich „toll“, und mir tun die leid, die ihn gleich nach dem Öffnen trinken sollten, wie im Laden empfohlen. Ich war bisher weder ein Fan der Rebsorte Gamay, noch des Anbaugebiets Beaujolais. Aber das wird jetzt mit jedem Schluck anders. Ich lerne zum ersten Mal, was hier entstehen kann, wenn die richtigen Hände am Werk sind. Oder liegt es daran, dass der Wein ein Naturwein ist?

Was ist Naturwein? Matthieu Lapierre, Sohn von Pionier Marcel, gibt eine plausible Antwort. Mais c’est en français, putain! Daher hier die Crux:
Mathieu Lapierre bringt es auf den Punkt: „Schwefel ist fast nie hilfreich, aber manchmal ist er unerlässlich“. Bei Lapierre wird er verwendet wie ein Feuerlöscher. Einen Wein, der aus Gründen der Geschmacksqualität etwas Schwefel enthält, nicht mehr als Naturwein zu bezeichnen, obwohl sonst auf alle Zusätze im Weinberg und im Keller verzichtet wird, ist fragwürdig. Andererseits jeden Wein als Naturwein zu bezeichnen, nur weil ihm kein Schwefel zugesetzt wurde, ist Unsinn, weil die Gesamtbetrachtung der Arbeit damit in den Hintergrund gerückt wird.

Bio? Biodynamie? Naturwein?

Bio heißt, man schießt im Weinberg nicht mit Pestiziden auf alles, was einen stört: Tiere, Pflanzen und Pilze. Bio heißt, man arbeitet mit dem Verwirren von Tieren durch z.B. Pheromone (oder früher Vogelscheuchen), dem manuellen Ausreißen von Pflanzen (wie Brombeerhecken) und dem Spritzen von z.B. Schwefel, Kupfer oder Backpulver. Was dann im Keller geschieht, ist weniger streng geregelt. Aufzuckern, Stabilisieren, Klären („Gommage“), das ist alles grundsätzlich erlaubt.
Bei den Biodynamikern sind die Bio-Auflagen graduell strikter als beim Bio allein. Dafür kommt bei Biodynamisch noch eine ordentliche Dosis Rudolf-Steiner-Hokus-Pokus mit ins Spiel. „Wenn die Mühen der Ebenen zu beschwerlich werden, knipst der eine oder andere schon mal das Licht der Mystiker an“, meinte Hermann Grumbach zu diesem Thema.
Der Ansatz der Naturwinzer dagegen ist radikal: Keine Chemie im Weinberg und keine Chemie im Keller! Was den Zusatz von Schwefel angeht, scheiden sich die Geister. Man begegnet gelegentlich der Ansicht, dass Naturwein immer komplett frei davon sein muss. Ja sogar die Definition Naturwein = schwefelfrei, egal was sonst so in der Produktion passiert, kann man antreffen. Im folgenden Video erklärt Pierre Overnoy den Zusammenhang zwischen einer biologischen Arbeitsweise im Weinberg und dem Weglassen von Schwefel. Nur die Trauben, die noch den vollen Satz an natürlicher Chemie mit in den Keller bringen, können sich seiner Auffassung nach später als Wein auch selbst stabilisieren. Alle anderen nicht. Unnötig zu sagen, dass bei Overnoy radikal selektiert wird! Die Erträge sind minimal. Und die Preise entsprechend.

Pierre Overnoy, Naturwinzer der ersten Stunde aus dem Jura, der mittlerweile sein Weingut in die Hände von Emmanuel Houillon gelegt hat. Er spricht über die Anfänge der Naturwein-Bewegung in den späten Sechzigern, die eigentlich nichts anderes war als die Fortführung eines natürlichen Vinifizierungsprozesses, wie ihn Generationen vor ihm praktiziert hatten – nur dass sie nun wissenschaftlich untermauert waren durch die Forschungen von Jules Chauvet. Overnoy erklärt auch, warum man den Schwefel nicht ohne Weiteres völlig weglassen kann. Das hat was mit den ph-Werten im Jura zu tun … Wer wissen will, was mit jemandem passiert, der das Glück hat, einen Wein von Overnoy / Houillon in die Hände zu bekommen, dem empfehle ich die Beschreibung einer Verkostung auf Drunken Monday. Ich selbst hatte das Glück (noch) nicht.

Unterdessen in Berlin: Oh my God

Ich war bester Laune, nachdem ich den Morgon von Lapierre geleert hatte, und beschloss die zweite Flasche meinem Freund Geoffroy nach Lothringen mitzunehmen, der mir das Buch über Lapierre geliehen hatte. Dann machte ich den Cabernet Franc auf. Jetzt ist es allerdings so: Im Unterschied zur Rebsorte Gamay stehe ich total auf die Rebsorte Cabernet Franc und bilde mir ein, sie sofort an ihrer typischen Nase zu erkennen, sobald die erste Duftwolke zu mir herüberweht. Da ich mir direkt nach dem Öffnen nicht viel erwarte, nehme ich nur einen kleinen Schluck und schiebe die mit Mullverband verschlossene Bottle zurück in den Kühler. Mit der aus Südfrankreich mache ich dasselbe. Vierundzwanzig Stunden später ist das Problem immer noch da. Der Cabernet Franc ist geruchlich gar nicht als solcher zu erkennen. Auf der Zunge blubbernde Salatsoße, denn der Wein gärt offensichtlich immer weiter, und dazu eine Bitterkeit, als wäre das Holzfass mit ausgepresst worden. Mit dem Südfranzosen ist es nicht besser. Gut, denke ich. Es sind ja nicht alle Lapierres. Ich gebe denen also noch mal einen ganzen Tag im Kühler. Und dann noch mal einen. Aber nach einer Woche reicht’s. Ich gebe auf und kippe die Weine, die immerhin zwischen zwanzig und dreißig Euro gekostet hatten, ins Berliner Abwasser.

Naturwein-Etikett aus der Weinhandlung „Étiquette“. Typisch Naturwein ist die auffällige Abweichung von Standardetiketten und der bildliche Hinweis auf das, worauf es ankommt: die riesige Wurzel, die nur gedeihen kann, wo der Boden manuell oder mechanisch bearbeitet wird. Auf der Rückseite der Flasche sehen wir neben einer Reihe von Informationen auch: Bio-Zertifizierungen, einen Hinweis auf den Verzicht von Schwefel-Zusatz und die Klassifizierung „Vin de France“. Das ist die Klassifizierung mit dem geringsten Prestige im französischen Weinrecht. Oft findet sich diese Benennung auf den Etiketten von Naturweinen, weil zum Beispiel die Prüfkommission den Geschmack der Weine untypisch findet oder die Betriebe ihre Weine erst gar nicht mehr zur Verkostung einreichen. Aber Naturwein-Kunden stört das nicht. Sie zahlen den Preis nicht mehr für ein obsolet gewordenes Klassifizierungssystem von Grand Crus und AOC’s sondern für die naturnahe Arbeitsweise und den Qualitätsanspruch einzelner Weingüter.

„Étiquette“: Etikett und Etikette

Auf der Pariser Île Saint Louis gibt es einen Weinhändler („caviste“) namens Etiquette. Ein Abstecher dorthin lohnt sich. Der Chef Hervé ist schön schrullig, und sein Laden liegt so, dass man das Notre Dame-Wrack auf der Nachbarinsel gleich mitbestaunen kann. Bei Hervé findet man nicht nur tolle Weinetiketten – auf die legt er besonderen Wert – sondern auch Inhalte, die sich zu entdecken lohnen, selbst wenn man die Einkäufe danach stundenlang durch Paris schleppen muss. Dabei sind seine Weine allesamt Weine, die sich nicht an der herkömmlichen Weinbau-Etikette orientieren, sondern Naturweine ohne oder mit sehr geringer Schwefeldosierung. Dass er seinen Laden „Etiquette“ nannte, ist auch in dieser Hinsicht kein Zufall. Sicher, auch bei einem konventionellen Wein ist das Etikett das stärkste Verkaufsargument am POS (Point of Sale). In der Kombination mit Naturwein ist es dies aber umso mehr, da hier andere Qualitäten zählen als das feudal anmutende Drei-Klassen-System der Weinklassifizierung aus Grand Cru, AOP, Vin de France. Beim Naturwein ist die gute Story (fast) alles: das Pferd, das den Boden zwischen den Reben aufreißt, die Reifung des Weins in der grobporigen Tonamphore, das hinter sich gelassene Leben als Werbetexterin in Paris. Aber Vorsicht: Naturwein ist mehr als eine Modeerscheinung und Storytelling. Die Herausforderung besteht darin, die guten Hersteller zu finden, und das ist hier noch schwieriger als bei den konventionellen. Deshalb hier noch eine Empfehlung:

Oh là là. Das ist kein typischer Elsässer Riesling. Was für ein Glück! So lebendig wie diesen gibt es die nämlich sonst nicht: Bio-Riesling ohne zugesetzte Sulfite von Kumpf & Meyer. Olivier hat den gestiftet zur Bruschetta mit Sardinen à la Geoffroy – die wiederum gabs und gibts nicht im Handel, sondern nur bei ihm zu Hause oder vielleicht bald im TerminÜs in Saarbrücken.

Weinlese 2019 in der Champagne

Über Champagner wissen sogar die, die ihn nicht trinken, zumindest drei Dinge: Erstens, er sprudelt. Zweitens, er kommt aus Frankreich, genauer aus einer Gegend, die Champagne heißt. Und drittens, er ist deutlich teurer als alles andere, was schäumt und blubbert. Ich habe hier ein paar weniger bekannte, teils auch weniger schmeichelhafte Informationen zusammengetragen. Anlass war ein Abstecher mit meinem Hamburger Kumpel Malte in die Coteaux Champenois, jene Grand Cru-Weinhänge, die zwischen der Stadt Reims und der Marne liegen.

WÄCHST CHAMPAGNER WIRKLICH AUF DER MÜLLDEPONIE?

Natürlich wächst der Champagner nicht auf der Mülldeponie, aber die Mülldeponie kommt zum Champagner. Zumindest war das so bis Mitte der 1990er Jahre. Der Franzose Vincent Moissonier – er betreibt das beste Restaurant in Deutschland, und zwar in Köln – erklärt im folgenden Video dem Schauspieler Joachim Król das „Düngen“ der Weinberge der Champagne mit Pariser Hausmüll. Und der war, wie man sich leicht vorstellen kann, in den 1990er Jahren schon ordentlich mit Kunststoff und anderen Giften durchsetzt.

Im Video hört man sehr schön den französischen Akzent von Monsieur Moissonier, wenn das französische Voice Over pausiert.

Jetzt ein paar Zahlen!

2007 war das bisher beste Verkaufsjahr für den Champagner: knapp 340 Millionen Flaschen der „Bulles“ (Aussprache: „Büll“; im Französischen eine umgangssprachliche Bezeichnung für Blase und für Champagner) wurden gekippt, vor allem in die Hälse derer, die für eine andere „Bulle“ verantwortlich waren, für die Sub-Prime und Schrottimmobilien-Blase. Als diese 2008 platzt, geht der Absatz des Lieblingsgesöffs der Investmentbanker um 15% zurück. Insgesamt warten derzeit weltweit etwa 1,5 Milliarden Flaschen auf den passenden Anlass, um geleert zu werden. Das sind über vier Jahresproduktionen. Auch noch so eine „Bulle“? Eine „Bulle des bulles?“ Nein. Wenn man durch die Grand Crus der Champagne fährt, hat man nicht den Eindruck, dass das Wort Krise hier zum Wortschatz gehört. Im Schnitt werden die Flaschen aus der Champagne für 15 Euro verkauft, die Grand Crus liegen deutlich drüber.

Stadtschlösschen in Ay, finanziert vor allem mit Luftperlen. Darin eines der besten Häuser, das auch Rotwein produziert: Champagne Geoffroy

Haben wirklich die Engländer den Champagner erfunden?

Übrigens saufen nach den Franzosen (50%) die Engländer am meisten Champagner. Und das sollte nicht verwundern, haben doch die Briten einen entscheidenden Anteil daran, dass der Champagner so daherkommt, wie wir ihn kennen: sprudelnd. Die Briten waren es, die dem Wein in der Flasche Zuckerrohr aus den Kolonien hinzufügten und so eine zweite Gärung auslösten. Das dabei entstehende Kohlendioxid blieb in der Flasche, die „Bulles“ waren erfunden. Die passende, den Druck aushaltende Flasche hatten die Briten gleich miterfunden. Das war Ende des 17. Jahrhunderts. Parallel hierzu besteht in der Champagne die Auffassung, dass ein Benediktinermönch namens Pierre, genannt Dom, Perignon (heute eine Edelmarke von Moët Chandon) mit dem Mixen von Traubensäften und teilvergorenen Weinen dasselbe Ergebnis erzielt habt. Davor waren die Weine aus der Champagne nicht laut und bubbly, sondern still („tranquille“), und wenn sie rot waren, waren sie genauso rot wie die Rotweine andernorts auch – und noch keine „blanc de noir“.

Von Hand gelesene gesunde Trauben am 16.09.2019 in Bouzy. Noch sind sie rot. Sie könnten zu Rotwein weiterverarbeitet werden. Wahrscheinlicher ist, dass sie die Basis bilden für einen „Blanc de noir“, einen weißen Champagner aus Pinot Noir-Trauben

Marketing und Repression

Damit sich nicht jeder Schaumwein Champagner nennen darf, gehen die Interessensvertreter der Bauern aus der Champagne konsequent gegen Verunreinigungen des Produkts vor. So verbietet seit 1998 das Abkommen zwischen der Schweiz und der EU einer eidgenössischen Gemeinde namens „Champagne“, einem Nest mit 912 Einwohnern und 43 Winzern, den Namen seines Ortes auf den Etiketten seiner im Übrigen nicht schäumenden Weine zu erwähnen. Wer so massiv Lobbyarbeit verrichtet, wird sich doch auch in anderer Weise für die Qualität eines Produkts einsetzen, das derart schützenswert ist. Oder etwa nicht? Leider nein. Neben der schon erwähnten und mittlerweile verbotenen Hausmüllverarbeitung sind in der Champagne Dinge erlaubt, über die man andernorts zumindest die Nase rümpft – wenn sie nicht gar unter Strafandrohung verboten sind. Hier darf man rote und weiße Rebsorten mischen. Man darf Jahrgänge miteinander verschneiden. Und auch das Zusetzen von Zucker ist Teil der „méthode champenoise“. Nur heißen die Dinge hier schicker: Statt Panschen spricht man von „Assemblage“, „Réserve“ und „Dosage“.

Aber genug geschimpft. Jetzt kommt was Positives: die Coteaux Champenois

Die Champagne bleibt aber bei alledem ein Weinbaugebiet, also ein Gebiet, in dem Wein wächst, und nicht nur Blasen erzeugt werden. Auch stiller Wein wird hier produziert: weiß, rosé und rot. Diese Weine findet man unter der Bezeichnung „Coteaux Champenois“. Angeblich steigt die Produktion dieser roten stillen Champagner – denn auch in der Champagne wird’s wärmer und die hier zugelassenen Rotweinsorten Pinot noir und Pinot meunier mögen nicht nur die Kalkböden der Champagne, sondern auch die Sonne. Aber die Champagner-Lobby mag die roten Weine nicht. Seit dem Millennium gibt es keine Zahlen mehr zur Produktion. Der nicht blubbernde Rotwein wird statistisch einfach in die Champagner-Zahlen eingepflügt. Ist er zu gut? Ist das Risiko zu hoch, den mit viel Aufwand durch Bling-Bling-Marketing und Errichtung rechtlicher Hürden aufgebauten hochdefinierten Markenkern zu beschädigen?

Die roten Traditionstrauben in der Champagne: Pinot Meunier (Schwarzriesling) und Pinot noir (Spätburgunder). Meist wird daraus Champagner, in diesem Fall aber ein stolzer Rotwein, mit einem ebenso stolzen Preis.

Der Abstecher in die Coteaux Champenois lohnt sich. Zumindest wenn man eh schon Richtung Westen unterwegs ist. Im Weinhandel hierzulande wird man diese roten Weine nämlich vergeblich suchen. In Tokyo und New York ist das anders. Als ich am Montag ein wenig mit Jean-Baptiste Geoffroy über seine Rotweine plaudere, stellte er mir Yuri Shima vor. Yuri ist eine japanische Juristin, die die Website champagne-life.com betreibt, in Tokyo und L.A. lebt, aber ihre freie Zeit komplett in der Champagne verbringt. Und was kauft sie? Eine Kiste Roten!

Das ABC der Orte, in denen traditionell auch stiller Champagner hergestellt wird: A wie Aÿ (ausgesprochen wie Eselwiehern rückwärts), B wie Bouzy und C wie Cumières. Aber Achtung: Alle Weingüter, die Rotweine herstellen, machen auch Champagner. Nach den Roten muss man also fragen!