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Die rote Loire

Die Loire ist Frankreichs längster Fluss. Sie entspringt südlich von Valence in der Ardèche, fließt Richtung Norden bis Orléans und danach südwestlich bis Nantes. Sie wälzt sich hin und her in ihrem breiten Flussbett und hat keine Eile, ihre Säfte mit denen des salzigen Atlantiks zu vermischen. Von Roanne bis zur Mündung bei Saint Nazaire folgt ein Weinbaugebiet aufs andere. Auf ihrem Weg nach Norden liegen die berühmten Lagen der Sauvignon Blanc-Traube Menetou-Salon, Sancerre und Pouilly-Fumé. Weiter gehts in der Touraine mit Chenin, sowohl als stiller Weißwein als auch als lauter Crémant. Und schließlich kommen bis in Meeresblicklagen die Weinberge des Muscadets aus der weißen Melon-Traube. Lange hatte ich die Loire als Weißweinregion abgespeichert. Bis ich vor etwa zehn Jahren mit meinem Freund Mycle zum Mittagessen im Temps des Cerises in der Butte aux Cailles saß. Die Sonne schien auf das Trottoire mit den gedeckten Tischen, das Essen war, wie immer dort, unambitioniert raffiniert, und der Wein kam von der Loire. Und er war rot – ein Chinon, den sie uns mit 14 Grad aus dem Kühler auf den Tisch stellten. Er hatte zwölfeinhalb Prozent Alkohol, eine bläuliche Farbe und eine Nase, in der die Veilchenaromen dominierten. Es war der Beginn einer Passion: Cabernet Francs aus der Touraine und dem Anjou.

Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/79/Vignobles_val_de_loire.png

Tuffsteingallerien in Bourgueil

Bourgueil und Saint-Nicholas de Bourgueil liegen im Zentrum der Rotweinproduktion der Loire. Hier ist Rotwein gleichbedeutend mit Cabernet Franc. Nur hier an der Loire wird er sortenrein angebaut, in Appellationen wie Chinon oder Saumur-Champigny oder eben Bourgueil. Anderswo, vor allem im Bordeaux, findet man den Cabernet Franc nur als Cuvée-Partner des Cabernet Sauvignon und des Merlot. Der Cabernet Franc gilt als leichter, weniger tanninhaltig, weniger komplex und weniger lagerfähig als der Cabernet Sauvignon. Aber das sind Alt-Herren-Klischees, wie sie die renommierte „Revue du vin de France“, kurz LARVF, auch heute noch reproduziert, um dann allwissend hinzuzufügen, in welchen Orten der Loire „dennoch“ herausragende Cabernet Franc entstehen können, die mit den großen Weinen in Bordeaux mithalten können.

5000 Quadratmeter Lagerraum des Weinguts LA CABERNELLE in Saint Nicolas de Bourgueil. Die Höhle entstand vor Jahrhunderten bei der Natursteingewinung für den Bau der Kirchen und Schlösser der Loire. Neun Meter Überdeckung sorgen für konstante zwölf Grad.

Der Aufstieg des Cabernet Franc

Charly Foucault war nicht nur als Bio-Winzer ein Pionier an der Loire, er setzte auch neue Maßstäbe in Sachen Rotweinqualität. In den 90er Jahren bei einer Blindverkostung in New York, USA, verwies sein Cabernet Franc die versammelten Pomerol-Großlagen aus dem Bordeaux auf die Plätze – obwohl sein Wein nur als „vin piège“, als „Ausreißerwein“ in die Verkostung aufgenommen worden war. Dasselbe wiederholte sich kurz darauf in Paris. Ab da standen reinsortige Cabernet Francs im Scheinwerferlicht der französischen Weinszene – und das Weingut Clos Rougeard wird bis heute von der LARVF als Topadresse gehandelt. Allerdings ist Charly Foucault 2015 gestorben, und das Weingut wurde anschließend an den Großindustriellen und Sarkozy-Freund Martin Bouygues verkauft (Also Vorsicht bei allen Jahrgängen 2015 folgende!).

Posing im Keller von La Cabernelle. Warum der schwere Holzhammer noch da liegt, ist nicht klar. Diese alten Holzfässer sind nicht in Betrieb, und unser Cabernet Franc wird ganz ohne Holzberührung im Edelstahltank ausgebaut.

Das Geheimnis des Herbstes

Wir haben bei crusauvage einen Cabernet Franc von der Domaine Cabernelle im Programm, den Secret d’Automne. Hier in Bourgueil bin ich mit Bertrand, dem Kellermeister des Weinguts verabredet. Für die Schlösser und Kathedralen der Loire wurde der Tuffstein aus unterirdischen Steinbrüchen abgebaut. Die so entstandenen Hohlräume dienen den Weingütern als Lager. La Cabernelle besitzt einen Fußballplatz großen Raum, der unter 9 Metern Gestein liegt und die Temperatur auf stabilen 12 Grad hält. Hier befindet sich das Referenzlager. Bertrand, zieht aus einem haarigen Haufen eine Flasche, die aussieht, wie eine überfahrene Katze. Im Tageslicht kratzen wir den schwarzen Schimmel ab, das Etikett ist dem hungrigen Pilz zum Opfer gefallen. Aber seitlich auf dem Korken steht das Jahr: 1973. War ich da schon geboren? Ich denke schon, aber sicher bin ich mir nicht. Das ist einfach zu lange her. 1973 war kein großer Jahrgang, weder an der Loire, noch sonstwo. Über die grobe Art der Weinzubereitung von damals kann Bertrand nur den Kopf schütteln. Die Umstellung der Produktion auf schonende Verfahren, Spontanvergärung und Bio-Zertifizierung sind sein Werk. Aber der 73er hat aufgrund der kalten 70er Jahre ordentlich Säure und wohl deshalb und wegen der stabilen 12 Graf in der Tuffsteinhöhle die 50 Jahre sehr gut überstanden. Die Nase ist intensiv, und die klassischen Cabernet Franc-Aromen sind auch am Gaumen präsent.

Ein Pelztier, in dem sich ein 1973er Saint Nicolas de Bourgueil verbirgt. Bertrand, dessen Vorfahren diesen Wein gemacht haben, ist heute der Kellermeister von La Cabernelle.

Wir, bei crusauvage, sind schon lange Fans der Weine von der Loire, und insbesondere des Cabernet Franc. Mit seiner Frische ist er der klassische Begleiter eines Mittagessens in einem Pariser Bistrot. Mit seinen moderaten Alkoholgraden ist er eine echte Alternative zu den Schwergewichten aus dem Süden Frankreichs. Der Cabernet Franc ist eine imposante Pflanze mit kräftigem Holzaufbau, was zu baumdicken Rebschenkeln führt. Obwohl er eher in moderaten oder nördlicheren Weinbaugegenden vorkommt – auch an den Finger Lakes im Norden des bundesstaates New York – braucht er ausreichend Sonnenstunden, sonst reift er nicht aus. Und wenn er nicht ausreift, entdecken wir keine feinen Aromen nach Veilchen und Waldbeeren in der Nase, sondern gemüsige Töne wie grüne Paprika. In Deutschland gibt es erste Versuche mit Cabernet Franc, darunter auch angeblich Beeindruckendes wie der Bericht einer Blindverkostung von Drunken Monday verkündet. Für mich konnte ich das bei meinen Verkostungen bisher nicht bestätigen. Mir waren die deutsche Cabernet Francs allesamt zu verholzt. Wir bei crusauvage bleiben erst einmal bei der roten Loire.

Secrets d‘ automne, die Geheimnisse des Herbstes, ist unser Cabernet Franc. Die Weinberge liegen in Saint-Nicolas de Bourgueil, das Weingut selbst befindet sich in Benais.

Trouver le bon Chenin …

Ich hätte mich ins Auto setzen können, um unseren neuen Chenin zu finden. Ich hätte ein bisschen im Stau gestanden, ein bisschen die Nerven verloren, ein bisschen auf dem Dreckssandwich aus der Raststätte rumgekaut. Ich wäre in Vouvray oder sonst wo an der Loire angekommen und hätte den Chenin gefunden, der uns bei crusauvage so schmerzlich fehlt. Aber dafür hätte ich im Internet recherchieren und herumtelefonieren müssen, um dann an der Loire von Termin zu Termin zu hetzen. All das wollte ich nicht. Das hätte sich nicht richtig angefühlt. Ich wollte unseren neuen Chenin so finden, wie ich den alten gefunden hatte, ohne gezieltes Suchen. Ich wollte, dass mir der Chenin zuläuft wie ein Hund. Aber da mir bisher noch kein Hund zugelaufen ist, habe ich mich aufs Rad gesetzt, in der Hoffnung, mir so die Vorsehung gewogen zu stimmen.

Richtung Atlantik quere ich auch die Seine, einen Zipfel des Burgunds und der Champagne. Aber am Anfang geht es durch Lothringen, so nah und doch in so wehmütiger Ferne.

Chenin beim Afghanen in Orléans

Bis an die Loire, die Heimat des Chenin, musste ich in die Pedale treten. Vorher hatte kein Restaurant einen Chenin auf der Karte. In Orléans folgte ich dem Gault-Millau bis zum Menü, das neben dem Eingang des empfohlenen Restaurants hing: Französische Klassiker, neu interpretiert, hätte da als Zusammenfassung drüber oder drunter stehen können. Die hatten ganz sicher einen Chenin! Aber aus dem Imbiss auf der anderen Straßenseite wehte mir der Duft von afghanischen Teigtaschen und Palau in die Nase. Ich konnte nicht widerstehen. Ich setzte mich an einen der Tische vor dem Imbiss und aß die Vorspeise (Lauch-Mantus in Lammhacksoße) und dann aß ich sie gleich noch einmal. Der einzige Weißwein auf der Karte war ein Chenin, und ich sah mich schon erzählen, wie ich beim Afghanen in Orléans hinter dem Großmarkt unseren neuen Chenin entdeckt hatte. Neben mir saßen zwei alte Damen an einem Sechsertisch. Den hatte ihnen der Chef freigehalten. Sie teilten sich ein Essen. Und als es and Zahlen ging, wollte der Chef kein Geld von ihnen nehmen. Mein Geld nahm er, auch für den Chenin, an dem ich nicht einmal richtig genippt hatte.

Immer die Loire im Auge. Und bloß nicht vom richtigen Chenin (sic!) abkommen … Loire enfin, in Orléans: Den ersten Chenin bestelle ich im afghanischen Imbiss. Nicht ganz das, wonach ich gesucht hatte. Wäre aber auch zu schön gewesen fürs Storytelling.

Tours – Hauptstadt des Vouvray und des Chenin!

Weiter fuhr ich nach Tours und ließ mich am Abend im Restaurant „Les Gens Heureux“ nieder. Sehr viel Charme hatten der Gastraum, die Chefin und ihr Personal. Und sehr viel Chenin stand auf der Weinkarte. Weil ich alle probieren wollte, brachte man mir extra kleine Gläschen, und immer drei aufs Mal. Bei so viel Entgegenkommen, konnte ich leicht darüber hinwegsehen, dass die Küche realitätsblind war, was die Umsetzung ihrer kreativen Menütexte anging. Ich habe hier den neuen Crémant für crusauvage getrunken und auch einen Weißwein. Beide 100% Chenin. was sonst? Und das Restaurant? Trotz der selbstverliebten Küche eine Empfehlung. Leider war „l’Accalmie“ total überbucht. Die Crew saß rauchend vor der Tür und bedauerte es ehrlich, nicht mal einen einzigen Platz für einen hungrigen Radfahrer freimachen zu können. Aber wer weiß. Vielleicht hätte ich den Chenin dort nicht gefunden.

Tour. Im Restaurant „Chez les gens heureux“. In der Hand einen Crémant aus 100% Chenin von Nicolas Brunet aus Vouvray. Der wird’s!

Hotel mit großem Charme in Bourgueil

Bourgueil. Als ich nach Bourgueil reinfahre, ist das ganze Innenstädtchen für den Autoverkehr gesperrt. In einer Gasse gehts nicht weiter, weil ein Bass und zwei Gitarren Manouche spielen und die Leute auf der Straße swingen. Auch auf dem Platz vor dem Hotel Thouarsais steht eine Bühne. Laurence, die Wirtin, hat mit ihrem Gefährten Pierre-Yves eine Bar vor dem Eingang aufgebaut und serviert einen köstlichen Salat. Mein Zimmer werde erst so um fünf fertig, wegen dem Fest. Ich ziehe mich im Schuppen um und lasse Rad und Rucksack gleich dort stehen. So genügsame Gäste haben sie scheinbar nicht oft. „Qu’est-ce que tu bois?“ „T’as un Chenin?“ „T’aimes le Chenin?“ „J’adore.“ „Moi aussi.“ Laurence hat für das Fest keinen vorgesehen, aber sie holt einen aus dem Keller. 2021er Hervé Menard, sein erster Weißwein, bisher hatte er nur Rotweine gemacht.

Cabernet Franc in einem Weinberg von Hervé Menrad. Jungrebe (mit Fraßschutz) und davor eine Altrebe mit starken, für den Cabernet-Franc typischen, Rebschenkeln. Aber das ist eine andere Geschichte …

Ein Abstecher in die Rotweine

Der Chenin ist frisch, fruchtig, hat Struktur und eine lange Säure. Toller Wein, selbst bei 40 Grad im Schatten. Laurence tippt auf ihrem Telefon rum und drückt es mir in die Hand. Nach einem kurzen Gespräch mit Hervé beschließe ich, meinen Aufenthalt in Bourgueil um einen Tag zu verlängern. Hier gibts es noch was tun. Am Morgen radle die zwei Kilometer zu Hervé. Er ist im Keller, wir quatschen über seine Weine, die Arbeit mit den Pferden, mit denen er seine sechs Hektar pflügt. Vor ein paar Jahren hat er mit einem Pferd, einem weißen Percheron, angefangen. Das Tier riss, anders als der Traktor, beim Pflügen keine Reben aus, und die Arbeit mit dem Pferd machte Hervé so viel Freude, dass er sein Weingut um 8 Hektar verkleinerte und sich noch ein Pferd zulegte. Heute pflügt er nur mit den Pferden den Boden seines 6 ha – Bio-Weinguts. Wir gehen essen, und Hervé zeigt mir jede einzelne Parzelle, die er bearbeitet. Am späten Nachmittag drückt er mir die Schlüssel von seinem Transporter in die Hand und meinte, es sei zu heiß zum Radfahren, ich solle ihm einfach den Wagen wiederbringen, wenn ich mit den anderen Terminen fertig sei. Wir haben ein Angebot für seinen Wein. Viel werden wir nicht bekommen – und dieses Jahr gar nichts mehr. Aber nächste Jahr, da kriegen wir Chenin und Cabernet Franc!

Chenin bis an die Atlantikküste

Angekommen am Atlantik bei Pornic. Auch hier gibts Chenin, auch wenn der Wein, der in der Gegend wächst, ein Muscadet ist, gekeltert aus der Rebsorte „Melon de Bourgogne“.

Um sechs Uhr früh fahre ich durch das leere Bourgueil, runter zur Loire und dann 180 Kilometer bis nach Nantes und am nächsten Morgen gleich weiter ans Meer. Im Betongestrüpp der Umfahrungen, Autobahnzubringer und mehrspurigen Verteiler erwischte mich der erste Regen – in diesem ultraheißen und gewitterfreien Sommer. Ich stelle mich unter das Vordach einer Tankstelle und warte. Als der Regen aufhört, stemmte ich mich gegen den Wind, der sich mir wie eine Wand entgegenstellte und die gerade mal achtzig Kilometer bis Pornic zu einer ernsthaften Prüfung macht. Der Verkehr ist übel, und übler ist nur, dass es keine Alternative zur Landstraße gibt. Als der dritte Lastzug mich nicht in seinen Windsog reißt und überrollt, beschließe ich, das Schicksal nicht weiter herauszufordern, steige die Böschung runter und versuche das Rennrad durch den tiefen Sand eines Fußwegs zu fahren. Irgendwann kam ich an. Letzte Kurve. Der Strand. Ich stellte mich mit dem Rad in die Wellen und bat einen alten Monsieur Fotos zu machen, trank ein Bier in der Strandbar und suchte mir ein Hotel. Am Abend ging ich mit Christine und Moni essen: Réunion de la Sarre. Der Chenin war von Tania et Vincent Carême und er war alles andere als schlampig. Der neue Chenin für crusauvage allerdings kommt von Nicolas Brunet aus Vouvray, und es ist nicht nur einer: Wir haben einen sehr und einen etwas weniger trockenen Chenin, einen Chenin-Dessertwein und einen Chenin Crémant! Und sein Crémant war es, der mir in Tours serviert wurde.

Mosel 2022 – Sonnenscheinjahrgang mit verregnetem Ende

Am 25.September dringen wir mit schwenkenden Leseeimern und gezückten Scheren in den Steilen Süden vor. Es gießt nicht. Es schüttet nicht. Aber es regnet. Tropfen fallen, und wenn keine fallen, ist die Luft trotzdem nass. Und die Reben sowieso. Es hilft nichts, wir müssen die Trauben retten. Drei Brigadistinnen haben in der Woche drauf, was Nostalgisches in Katalonien zu verrichten und stehen nur an diesem Wochenende zur Verfügung. Außerdem soll es die ganze Woche weiterregnen. Die Beerenhäute sind jetzt schon dünn, und das Mostgewicht stagniert seit zwei Wochen bei circa 80 Grad Öchsle. Mit jedem Tag steigt das Risiko, dass die Beeren aufplatzen und die Fäulnis einzieht. Also machen wir das Beste daraus. Die Wanne, in der die Trauben nach Lieser transportiert werden, steht trocken im Transporter. In der Hotte (Kiepe) hat sich in der „Kaffeepause“, mit der wir den Einsatz beginnen, schon ein halber Liter Regen gesammelt. Ich drehe die Hotte einmal um, dann schnalle ich sie mir auf den Rücken, um die erste Runde Trauben aufzuladen. Die Leser*innen schütteln die Reben kräftig durch, bevor sie die Trauben abschneiden. Bevor sie die Trauben in die Hotte schütten, gießen sie das Wasser aus, das sich dennoch am Boden der Leseeimer sammelt. Mit Sorgfalt und Ruhe sind wir zuversichtlich, trotz der für diesen Tag angekündigten vier Liter Regen die 80 Grad Öchsle in den Grumbach’schen Keller zu retten.

Blick in die Traubenwanne. Platz wäre noch massig. Und wie siehts im Inneren der Trauben aus? Mein Winzer-Onkel Hans-Klaus lachte immer über den Nachbar, der mit den von ihm mit dem Refraktometer im Wingert gemessenen Mostgewichten herumprahlte. „Am Ende kommt’s drauf an, was du im Keller misst.“ Denn Richtung Gärtank passiert noch so mancher Öchsle-Schwund.

Sonnenschein und Regen

Unsere internationalen Lesebrigade setzt sich jedes Jahr neu zusammen. Zu den wenigen Routiniers und Routinières gesellen sich immer wieder Novizen und Debütantinnen. Dieses Jahr waren wir zu wölft. Hein, Meret, Thomas, Emilie, Martin, Christine, Moni, Svenja, Undine, Axel, Simon, Hannah. Mit so vielen Händen geht die Lese schnell. Selbst so eine unpraktische Parzelle wie der Steile Süden, bei dem die Ernte komplett noch oben aus dem Steilhang herausgetragen werden muss, war nach vier Stunden in der Wanne – und natürlich: Kaum waren wir fertig, mit Lese und Picknick, kommt die Sonne raus. Dieselbe Sonne, deren Präsenz das Jahr 2022 von Anfang an prägte. Der Anfang war zu perfekt: Der Frühling war warm, der Austrieb früh, es gab keinen Spätfrost. Wegen des geringen Niederschlags war der Pilzdruck gering. Aber dann gab in den Monaten Juli und August überhaupt keinen Niederschlag. Junganlagen ohne künstliche Bewässerung gingen ein, Reben, die vor weniger als zehn Jahren gepflanzt wurden, zeigten deutliche Spuren von Trockenstress: Im August waren ihre Blätter gelb, und sie stellten die Versorgung der Trauben ein. Mission Selbsterhalt. Alte Reben wie die im Steilen Süden haben mit ihren dreißig und mehr Metern in den Schieferboden ragenden Wurzeln keine Probleme dieser Art. Dennoch: Auch hier waren die Beeren klein, und sie enthielten kaum Saft zum Auspressen. Am 11.September hatten die Beeren im Steilen Süden nach dem Sommer mit den meisten Sonnenstunden seit Beginn der Aufzeichnungen schon 81 Grad Öchsle (2021 waren es vier Wochen später gerade mal 76). Dann kam der Regen.

Alchimist*innen an der Kelter

Emilie und Christine schicken die Trauben aus dem Neefer Frauenberg auf die Grumbach’sche Kelter in Lieser.

Ein letzter Blick auf die Wanne, die im Lieferwagen steht. Als ich losfahre nach Lieser sieht die Menge noch recht vielversprechend aus. Aber als Peter Grumbach im Schongang presst, um nicht den bitteren Saft der Kerne oder die Schalenaromen mit in den Most zu bekommen, ist das quantitative Ergebnis doch sehr ernüchternd: 220 Liter im Ruhetank, deutlich weniger als im Jahr zuvor. Wir lassen den Most über Nacht stehen. Die Schwebstoffe sinken zu Boden. Peter pumpt den klaren Most am 26.09.2022 rüber in den Stahltank und lässt 30 Liter so genannten Trub in die Kanalisation laufen. Jetzt sind es noch 190 Liter. Durch Gebindewechsel, Verkosten und Abfüllung geht noch ein bisschen was flöten … So knapp 220 Flaschen könnte der Steile Süden 2022 am Ende bringen. Aus ca. 800 Stöcken ist das ein verdammt mageres Ergebnis. Die paar Flaschen werden wir wohl im Rieslingkollektiv alleine austrinken müssen. Und was dann noch fehlt, besorgen wir uns beim Weingut Grumbach. Am 3. Oktober lasen wir da bei schönstem Sonnenschein circa 500 Liter mit 83 Grad Öchsle.

Noch hat der frisch gepresste Most aus dem Steilen Süden im Neefer Frauenberg 80 Grad Öchsle…
… dann kommt die Temperaturkorrektur der Öchslewerte: Bei 14 Grad Celsius Mosttemperatur müssen wir von den 81 Öchsle noch mal zwei abziehen, was uns auf 79 bringt. Das gibt aufgrund der niedrigen Säurewerte in diesem Jahr einen durchgegorenen Riesling mit knapp 11 Prozent Alkohol. Eigentlich perfekt! Ach, was heißt schon eigentlich! Es ist perfekt!

Wie mit der Menge, so geht es auch mit den Öchsle kontinuierlich bergab. Die Messung am 11.09. mit Refraktometer ergab noch 81 Öchsle. Dann kamen Regen und Kälte, die Trauben nahmen Wasser auf, und in den zwei Wochen bis zur Lese schaffte es die Photosynthese gerade einmal, die 81 Grad Öchsel zu halten – an sonnigen Herbsttagen sind eigentlich bis zu zwei Öchsle Zuwachs drin, durch Assimilate aber auch durch Konzentrationssteigerung in Folge Verdunstung. Nach Trubabzug und Temperaturkorrektur waren wir bei 78 Grad Öchsle. Ich finde das ja ausreichend (sic!). Aufgrund der geringen Säure dürfte das einen trockenen Riesling mit knapp 11 Prozent Alkohol ergeben. Am 11. September waren die Trauben im Steilen Süden zwar vom Mostgewicht reifer als Mitte Oktober ein Jahr zuvor, aber sie hatten keinen Geschmack. Sie waren einfach nur süß. Wir wussten, dass der Regen kommen würde und dass damit das Fäulnis-Risiko stieg. Aber wir hatten keine Wahl. Es musste sich Saft in den Beeren bilden, damit sich das Keltern überhaupt lohnen würde. Und – noch viel wichtiger – es sollten sich neben der Süße auch die typischen Riesling-Aromen ausbilden. Das ist in den beiden Wochen im Wechsel von Regen und bedecktem Himmel auch geschehen. Der erste Schluck Most nach dem Keltern war aromatisch sehr überzeugend.

„Ach komm , das wird ein Supertröpfen….. und mit Geld lässt sich der Spaß eh nicht aufwiegen schließlich geht es um die Idee“ (Brigadist Thomas A.)

Punk, Ypsilon und die Reise nach Lieser

16.10.2021. Die Messe im Wingert „Punk“ ist gelesen. Der „Y“ steht uns mit seiner parabelmäßig ansteigenden Giro D’Italia-Rampe noch bevor. Also müssen wir uns erst mal stärken: Günter, Henriette, Christina, Lino, Astrid, Alessandra, Christine, Natalie, Aivars, Hannah und ich setzen uns an die Bierbank zu Linsensuppe von Undine, Käse und einem Schluck Devonschiefer Riesling 2019 aus dem Weingut Hermann Grumbach in Lieser. Von der Grumbach-Familie ist heute niemand dabei, aber ohne sie wären wir alle nicht hier. Hannah, die Eigentümerin der Wingerte, und ich lernten uns 2019 kennen und vereinbarten, dass ich den Steilen Süden wieder in Ordnung bringen würde. Wo die Trauben einen Platz zum Keltern, Gären und Reifen finden würden, war völlig unklar. Klar war nur eines: Bei der Mühe in den extrem steilen Lagen musste das ein Weingut sein, dessen Produkte wir uneingeschränkt schätzten.

Blick vom „Punk“ das Moseltal aufwärts, Richtung Süden, Richtung Lieser [copyright: www.keeppassing.com]

Neefer Frauenberg zu Gast in Lieser

Svenja hatte im Literarischen Colloquium Berlin einen Mosel-Riesling kennengelernt, der sie völlig begeisterte. Sie schenkte mir ein Glas von diesem Devonschiefer ein, und ich wusste, es war diese Klarheit und Mineralität, die ich suchte und in den meisten Mosel-Rieslingen vermisste. Svenja nahm mich mit nach Lieser, um den Macher dieses Rieslings kennenzulernen: Hermann Grumbach. Ich fiel gleich mit der Tür ins Haus und fragte, ob er sich vorstellen könnte, unseren Neefer Frauenberg auszubauen. Das war zu überstürzt, denn so recht angenehm schien ihm die Vorstellung nicht, einem fremden Wein Platz im eigenen Keller zu machen. Aber eine gewisse Sympathie für uns enthusiastische Dilettanten, die eine Menge Zeit in einen aufgegebenen Steilhang stecken wollten, war deutlich spürbar. Im Verlauf meines Sabbaticals haben wir uns besser kennengelernt. Ich habe viel Zeit in den Lieser Reben verbracht und viel von Hermann gelernt: Rebschnitt, Laubarbeit, selektives Lesen und ein paar Prinzipien für einen vernünftigen Weinbau, der weder Raubbau an der Natur, noch am Menschen ist. Er hat uns den Weg gewiesen, um den Steilen Süden schonend zurück auf den Ertragsweg zu führen. Und als es soweit war, hat er die Tür geöffnet zu seinem Keller. Der „Steile Süden“, und der „Punk mit Ypsilon“ aus Neef sind nun Gäste in Lieser. Und wären sie das nicht, hätten wir uns hier heute nicht getroffen, um zu lesen! Und würden uns nicht bei Suppe, Brot und Käse für die steilsten Passagen des Ypsilon stärken.

Schon wieder Pause im „Y“ mit Cantal, Reblochon und Munster. Und Undines Linsensuppe. Beinahe hätte uns vor lauter Pausen die Nacht eingeholt … [copyright: www.keeppassing.com]

Elbe, Niederrhein, und der Canal de Bruxelles …

Der Tag an der Mosel beginnt mit zähem Nebel, der sich erst am Nachmittag auflöst. Als die Sonne durchkommt und der Herbst sich von seiner anschmiegsamen Seite zeigt, kann ich beinahe verstehen, warum manche Menschen behaupten, dass der Herbst ihre Lieblingsjahreszeit ist. Von der Elbe, vom Niederrhein und vom Canal de Bruxelles, von all diesen dank Klimawandel zukünftigen Weinbauregion sind Freundinnen und Freunde zur Lese gekommen. Und auch aus den alten Weinbauregionen Main und Saar sind welche dabei. Mit der Erfahrung aus dem Steilen Süden eine Woche zuvor – nach nur fünf Stunden war alles in der Bütte – schlagen wir ein eher moderates Tempo an und machten ausgiebig Pausen. Als wir in die steilsten Passagen des Y vordringen, ist die Sonne bereits hinter der Horizontlinie der Eifel verschwunden. Der alte Nebel kriecht wieder aus dem Boden hervor und greift nach dem Mark in unseren Knochen. Aber kurz vor schwarz ist dann doch alles in der Bütte, und die knapp 300 Kilo Trauben tuckerten über die Eifel Richtung Lieser.

Hannah und Aivars mit hanseatischer Lesetechnik auf Kurs „gesundes Ausgangsmaterial“. Alles musste raus: von Peronospora befallene und eingetrocknete Beeren, Beeren mit Sonnenbrand und vor allem die gemeine und besonders eklige Fäulnis.

Countdown im Keller: 300, 250, 200, …

Nachdem Peter Grumbach die 300 Kilo Trauben gekeltert hat, liegt ein zusammengeschrumpfter Haufen aus Traubenschalen und Rappen in der Ecke des Keller, so eine Art „Pulp“ – in der anderen Ecke stehen dafür nun 250 Liter Most im Edelstahltank. Nach vierundzwanzig Stunden Ruhe pumpen wir den geklärten Most in einen anderen Tank; den am Boden verbleibenden „Trub“ lassen wir in die Kanalisation laufen. Da sind es noch 200 Liter. Zwei Tage später fängt der Steile Süden von selbst an zu gären, spontan, mit indigenen Hefen. Sollten Punk und Ypsilon das nicht schaffen, schütten wir einen Eimer gärender Steiler Süden in ihren Tank, und dann wird auch in ihnen die Gärkohlensäure knistern.

Human-Plant Interactive Dynamics: Svenja befüllt mit Schwung die Grumbach’sche Kelter mit Trauben aus dem Steilen Süden. Unter dem wachsamen Auge von Peter Grumbach, dem Master Mind für die Verarbeitung der Früchte aus dem Neefer Frauenberg

From Dusk Till Dawn

Mit 74 Grad Oechsle ist das Mostgewicht nicht eben berauschend. 9,irgendwas % Alkohol ergibt das im Wein, wenn es gut läuft. Damit der einen berauscht, muss dann schon etwas mehr durch die Kehle fließen. Und damit etwas mehr durch die Kehle fließt, darf er nicht zu sauer sein. Also setzen Peter und ich zu Pulver vermahlenen Kalk zum Most. Das zieht den pH-Wert etwas nach oben und hilft dem Wein zu gären, z.B, auch den biologischen Säureabbau, oder die „Malo“ in Gang zu setzen, die auf die alkoholische Gärung folgt und bei der unter Freisetzung von Kohlensäure die als scharf wahrgenommene Apfelsäure in die mildere Milchsäure umgewandelt wird. Es ist unsere einzige Intervention. Peter Grumbach vermutet, dass unser Riesling trotzdem ein Nostalgie-Produkte mit Anklängen an die Kaltsommer-Weine der Siebziger Jahren werden könnte. Mit strammer Säure zum Beispiel. Da mag er recht haben. Ich habe nichts dagegen, weder gegen die Säure, noch gegen einen Wein mit Anklängen an die Siebziger. Wir müssen ihm nur den richtigen Siebziger Jahre-Twist geben – vielleicht à la Tarantino.

Bereit zu gären: der Steile Süden im Edelstahltank, noch getarnt als Cappuccino. Weingut Grumbach, Lieser 11. Oktober 2021. Mittlerweile knistert er vergnüglich vor sich hin.

Riesling-Collective at Work: 2021er Lese im Steilen Süden, Neefer Frauenberg

Das Ergebnis der Lese im Vorjahr war mager: Svenja und ich drehten jedes Blatt um und nahmen sogar die grünen Geiztrauben mit. Nach zwei Stunden Rumgekraxel im Steilen Süden fuhren wir mit zweieinhalb Eimern Rieslingtrauben nach Lieser zu Hermann Grumbach. Nach Pressen und Trubabzug blieben uns knapp fünf Liter, also sechs Schlegelflaschen und ein bisschen. Das war auch okay. Wir hatten auf Anraten von Hermann Grumbach nach Inaugenscheinnahme in Neef beschlossen, auf Holzaufbau der Reben zu schneiden und auf Ertrag zu verzichten. Trotzdem waren wir extrem neugierig, was der Steile Süden mit seinem radikalen Schieferskelett und seinen wurzelechten Rebstöcken zustande bringen würde. Und so hatteen wir die karge Ausbeute eingesammelt. Wir haben den Steilen Süden mit dem Grumbach’schen Riesling, der bereits gärte, geimpft, weil unser mit 72 Öchsle nicht gerade opulenter Most nicht so recht mit der Gärung loslegen wollte.

2020 – sechs Flaschen aus 800 Stöcken

Schließlich hatten wir sechs Flaschen abgefüllt: ohne Schönung, ohne Chaptalisierung, ohne Filtrierung, ohne Schwefelzusatz. Ziemlich puristisch. Die malolaktische Gärung oder BSA (biologische Säureabbau), bei der Apfelsäure in Milchsäure unter Freisetzung von CO2 umgewandelt wird, machte der 2020er ohne unser Zutun in der Flasche. Die empfundene Säure wurde dadurch abgemildert, das in der Flasche gefangene CO2 unterstrich die Mineralität und die Frische. Der 2020er „Steile Süden“ war, ohne dass wir das beabsichtigt hatten, zu einer Art „Riesling Verde“ oder einem „Pet Nat“ geworden. Und alle fanden’s geil – die sechs Flaschen halt.

Auf ein Neues: Undine, Svenja, Thomas und der Fotograf an einem sonnigen Wintertag 2021 im Steilen Süden. Was wir da angeschnitten haben, war maßgebend für die Qualität und den Ertrag im Oktober. Die Reben hatten unsere Vorjahresschnitte gut überstanden, es war kaum zu Stockausfällen gekommen. Wir waren also bereit, diesmal auf Ertrag zu schneiden, auf gemäßigten Ertrag.

2021 – viel Geschein, viel Regen und Pilzdruck …

Die Freude, die sich zwischenzeitlich – nach dem durch den langen Winter verzögerten Austrieb – angesichts der sich üppig entwickelnden Blütenansätze einstellte, hielt nicht lange. Auf das kalte Frühjahr folgte ein verregneter Sommer, und das Risiko eines massiven Pilzbefalls stieg. Der Steile Süden wird zwar gegen Pilzbefall (echter und falscher Mehltau) gespritzt (und sonst gegen nichts), aber all das erledigt der Hubschrauber, und die Wirkstoffe erreichen aufgrund des Abstands seiner Spritzdüsen zu den Reben nicht die Traubenzone. Die meisten Weinbaubetriebe spritzen von Hand nach. Wir nicht. Und jetzt dieses Pilzwetter! Sollten wir also schon wieder kaum etwas ernten?

Der Steile Süden ist in der Bütte, und die Bütte ist einigermaßen voll, das Lesegut gesund.

… aber am Ende gesundes Lesegut!

Um so größer war die Freude, als wir sahen, dass der magere, ungedüngte Boden, der die Reben nicht gerade mit Nährstoffen mästet, die Beeren relativ klein bleiben ließ, so dass Wind und Sonne nach den Regenfällen die Blütenstände und Beeren wieder trocknen konnten. Wir legten eine Zusatzschicht ein, um Blätter zu entfernen und den Trocknungsprozess zu unterstützen. Das Ergebnis: gesundes Lesegut, so gut wie kaum falscher Mehltau und kein Fäulnis-Befall.

Riesling-Lese-Kollektiv Steiler Süden am 10. 10. 2021: Hannah, Peter, Max, Svenja, Martin, Ute, Tatjana, Undine, Heiko, Emilie, Lino: l’affaire est dans le sac. Und das nach nur fünf Stunden!

Brigadistinnen und Brigadisten im Steilhang

Wir waren dieses Jahr international: Deutschland, Frankreich, Kolumbien, Kuba! Die Lese war einfach, weil es kaum Fäulnis, Sonnenbrand oder Peronospora („falscher Mehltaus“) aus den Trauben herauszulesen gab. Die Lese war beschwerlich, weil sie im Steilen Süden stattfand, mit an den steilsten Passagen 65 Grad Neigung. Dank des tapferen Einsatzes unserer Leser:innen waren wir in fünf Stunden fertig. Zwei Eimer machten einen steilen Abgang – einer davon schwimmt jetzt in der Mosel, oder auch schon im Rhein, eine Schnittwunde musste versorgt werden, es ist niemand verhungert und schon gar niemand verdurstet – wir hatten Wein von Hermann Grumbach und den Utopia von Sonja Geoffray dabei. Nur die von mir angekündigte Sternegastronomie konnte dieses Jahr nicht mit von der Partie sein. Wir übern eben noch – und werden nächstes Jahr besser. Vielen Dank an euch alle – und natürlich auch an die, die das Jahr über geschnitten, Dornen gehackt, ausgegeizt, gegipfelt und entblättert hatten. Ohne euch, wären wir in diesem Jahr nicht zu diesem Ergebnis gekommen.

Ich nach der Lese, ein happy MF!
[alle Fotos copyright Undine, Svenja oder Martin]

Clos de Rochebonne: ein Weinberg, ein Wein

Theizé, 25. Februar 2021. Morgens um halb neun treffe ich hier Sonja Geoffray vom Weingut Thivin und ihre beiden Kollegen Aurélien und Yohan. Theizé ist ein kleiner Ort in den Pierres Dorées, der Gegend der goldschimmernden Steine nordwestlich von Lyon. Das Zentrum des Orts bildet ein altes Schloss, das Château de Rochebonne. Im 17. Jahrhundert ließen die Adligen, die dort wohnten, direkt neben dem Schloss einen Wingert anlegen, einen „Clos“, umgeben von einer zwei Meter hohen Mauer. Sie dient als Wärmespeicher und schützt die Reben vor hungrigen Wildtieren und anderen Traubendieben. Schloss, Häuser des Ortes, die Mauern des Wingerts und der Boden, auf dem der Wein wächst, sind geprägt von den goldenen Steinen: eisenhaltigen Kalksteinbrocken, die aufgrund der Oxidation diese einzigartige Farbe entwickelt und ein besonderes Terroir geschaffen haben. In dieser Monopol-Lage, umgeben von Wald und Wiesen, und mit einem weitschweifenden Blick über das Tal der Saône erzeugt die Familie Geoffray die Grundlage für einen magischen Weißwein: den Clos de Rochebonne.

Château Rochebonne in Theizé, Pierres dorées. Die goldenen Steine dieser Region bestehen aus Kalk mit Eiseneinschlüssen. Die Oxidation ruft die gelbe Färbung hervor.

Rebschnitt

Die 1,2 Hektar des Clos de Rochebonne sind mit Chardonnay-Reben bepflanzt, die aktuelle Anlage ist zwölf Jahre alt. Die Reben wachsen im Drahtrahmen, und jedes Jahr wird ein Bogen mit circa sieben Augen angeschnitten. Im Château Thivin beschäftigt man sich schon lange mit den Prinzipien des sanften Rebschnitts, insbesondere mit dem Anschneiden von Zapfen und dem Stehenlassen von „Respektholz“, damit die Austrocknung der frischen Schnittstelle außerhalb des Altholzes stattfindet. So verringert sich das Risiko von Infektionen. Das alte Holz werfen wir in die Gasse, es wird später gemulcht. Der Bewuchs aus Gras und Kräutern zwischen und unter den Reben wird von bretonischen Zwergschafen niedrig gehalten. Vor der Weinlese im Spätsommer führen die Geoffrays einen Grünschnitt durch. Das reduziert die Traubenlast für die Rebe, fördert die Qualität und macht es für die Erntehelfer*innen leichter, nur gesundes und vollreifes Lesegut einzusammeln.

Sonja Geoffray, Winzerin des Château Thivin und Schöpferin des UTOPIA, einer Rotweincuvée aus pilzresistenten Rebsorten, die sie ganz ohne Pestizide in einem Wingert am Mont Brouilly kultiviert. Hier legt sie durch den Rebschnitt fest, wie der 2021er Clos de Rochebonne wachsen wird.

Casse-croute in den Reben

Zum Mittag grillen wir Paprika und Pilze und Steaks. Dazu gibt’s Salat und Baguette. Sonja hat auch einen gekühlten Clos de Rochebonne 2019 dabei, und als wir den geleert haben, geht es inspiriert mit einem Cuvée Zaccharie weiter, einem roten Gamay, ebenfalls von Château Thivin. Es ist genau so ein Tag, wie ich ihn mir in meinem Träumen von meinem Sabbatical immer vorgestellt hatte – lange bevor ich überhaupt etwas von dem Clos de Rochebonne, Wein oder Lage, wusste, geschweige denn von den Menschen, mit denen ich jetzt diesen Tag verbringe. Wir reden über pilzresistente Rebsorten, Erziehungsformen und Schnitttechnik, aber auch über die Musik von George Brassens, loben das tolle Essen und das prächtige Leben an diesem einzigartigen Flecken Erde. Ich weiß gar nicht mehr, wie wir danach weiter geschnitten haben … Auf jeden Fall habe ich vergessen, ein Foto von unserem Picknick zu machen. Das ist wohl ein gutes Zeichen.

Kaffeepause im Clos de Rochebonne. Sonja, Yohan. Und Aurélien: „Mach kein Foto von der Kaffeepause, zeig uns lieber beim Arbeiten!“

Wie entsteht ein großer Wein?

„Ich mag Ostlagen“, erklärt mir Claude Geoffray, Sonjas Schwiegervater, als wir am Abend wieder im Weingut sind. „Die Weinberge, die nach Osten ausgerichtet sind, produzieren mehr Frische und ein komplexeres Fruchtaroma als die mit West- oder Südlage.“ Sobald die geernteten Trauben aus Theizé im Weingut ankommen, werden sie unter eine Co2-Atmosphäre gesetzt. Nach dem Abpressen bleibt der Most zwei Tage gekühlt stehen, wobei sich unerwünschte Schwebstoffe nach unten absetzen. Anschließend wird der so durch Schwerkraft geklärte Most direkt auf Eichenholzfässer im Burgunderformat verteilt. Die Gärung beginnt spontan, und die Hefen werden nicht abgestochen. Sie bleiben im Fass bis zur Abfüllung. Das regelmäßige Aufrühren hält die Hefen frisch, und beim Abfüllen bleibt nur ein geringer Rest an Feinhefe im Fass zurück.

Nach Osten ausgerichtet ist die im 17. Jahrhundert angelegte Parzelle des Clos de Rochebonne, oben links im Bild. Sie ist vollständig ummauert. Ein einzigartiges Terroir, umgeben von Wald und Wiesen. Mit einem phantastischen Blick Richtung Tal der Saône.

Im Weißweinkeller

Die burgundischen, 225 Liter fassenden, Holzfässer, liegen in einer langen Reihe in einem Keller, an dessen Stirnseite eine Quelle gefasst ist, die Feuchtigkeit und Temperatur des Kellers auf natürliche Weise reguliert. Die Fässer sind bis zu zehn Jahre alt, und Claude macht eines nach dem anderen auf. Deutlich kann ich den unterschiedlichen Einfluss des Holzes schmecken, je nach Alter des Fasses und Häufigkeit der Belegung. Aber auch die unterschiedliche Herkunft der Fässer führt zu erkennbaren Geschmacksnuancen. Gemeinsam ist ihnen eines: Der Wein aus keinem der Fässer schmeckt vordergründig oder aufdringlich nach Eiche – nicht einmal der Wein aus dem neuen Fass vom letzten Jahr. Es kommt darauf an, wie lange das Holz ausgebrannt wurde, aber auch auf die Herkunft des Holzes. Es kommt auf das Klima im Keller an, in dem die Fässer lagern, und auf die Holzaufnahmefähigkeit der Parzelle, aus der die Trauben stammen. Es kommt auf die Erfahrung des Winzers an, auf das Vertrauen in die alten Verfahren und das Vertrauen in die Zeit, die der Wein zum Reifen braucht. Es kommt sicher auch noch auf vieles mehr an, damit ein großartiger Wein wie dieser entstehen kann. Mein Sabbatical neigt sich dem Ende zu, und ich werde nicht mehr alle Geheimnisse erkunden können. Aber heute bin ich glücklich und dankbar für diese Einblicke und einen unvergesslichen 25. Februar!

Château Thivin mit Weingutshund, Eingang zum Keller und meinem abfahrbereiten Transporter, beladen mit Clos de Rochebonne.

Riesling-Kollektiv: Steiler Süden in der Flasche!

Zweieinhalb Eimer Trauben aus eintausend Riesling-Stöcken. Eine so geringe Ausbeute macht uns so schnell keiner nach. Nicht einmal die radikalsten Ertragsbegrenzer. Im Sommer 2019 hatten wir den Steilen Süden aus seiner mehrjährigen Verwilderung freigeschnitten. 2020 waren wir froh, dass fast alle Stöcke diese krasse Maßnahme überlebt hatten. Und so ging es uns beim Rebschnitt im letzten Jahr um die Stärkung der über hundert Jahre alten wurzelechten Reben – und nicht darum, Ertrag zu erzielen. Hermann Grumbach hatte uns bei einer gemeinsamen Begehung des Steilen Süden dazu geraten.

Svenja im Steilen Süden bei der Lese 2020. Im Eimer zu sehen: 20 Prozent der Gesamternte.

Knapp drei Eimer aus 1000 Stöcken …

Mit der spärlichen Ernte auf dem Rücksitz des Weinbau-Skoda tuckern wir von Neef nach Lieser, zum Winzer unseres Vertrauens: Hermann Grumbach. Der hat seine Rieslinglagen noch nicht gelesen. Wie die meisten Weingüter in Lieser lässt er seine Trauben noch hängen – trotz angekündigtem Regen, denn das Mostgewicht entspricht nicht seinen Erwartungen. Florian, einer der Grumbach-Söhne, baut die Presse für Kleinmengen auf: einen perforierten Edelstahlzylinder, in dem sich ein Kunststoffballon befindet. Wir füllen die Trauben ein, anschließend wird der Ballon mit Wasser gefüllt und presst die Trauben gegen die Siebstruktur. Der Saft beginnt zu laufen. Ein Stahleimer mit knapp sieben Litern ist das Ergebnis. Wir ziehen den Trub, also den Schmodder, ab. Jetzt sind es eher noch so 5 Liter …

Florian Grumbach beim Abpressen in Lieser. Im Vordergrund die gesamte Ernte. Abgefüllt waren es schließlich 6 x 0,75 l und ein großer Schluck.

Keine Schönung, keine Filterung, keine Schwefelung

Der steile Süden 2020 darf in Ruhe gären, im Tiefkeller des Weinguts Grumbach, umgeben von raren Jahrgängen und ein paar Experimenten der Grumbach-Söhne Florian und Peter wie „macération carbonique“ (Kohlensäuremaischung) und Maischegärung mit weißen Trauben. Nach etwa einem Monat wird ihm die grobe Hefe entnommen, die sich am Boden abgesetzt hat, danach bleibt der Wein noch auf der Feinhefe liegen, bis er abgefüllt wird. „Der hat knackige Säure“, sagte Peter Grumbach. „So stelle ich mir die Rieslinge aus den kalten Siebziger Jahren vor.“ Er studiert Önologie in Geisenheim und schaut regelmäßig nach dem Glasballon mit dem Steilen Süden-Riesling. Vielleicht hätten wir die Trauben bei gemessenen 72 Grad Öchsle doch noch ein oder zwei Wochen hängen lassen sollen.

Gärtank Steiler Süden – zum Größenvergleich: ein Schuh, ein Koffer, ein paar Schrauben

72 Grad Öchsle: trocken bei 9,5% Alkohol

Ich habe noch eine intensive Erinnerung an den Mosel-Riesling der frühen 80er. Mein Vater ließ sie im Keller meines Onkels Hans-Klaus in Mehring gegen dessen Empfehlung „durchgären“. Anschließend kaufte er den ganzen Tank für seinen Freundeskreis auf. Es war eine Zeit, in der man als Connaisseur galt, wenn man “trockene” Weine trank – auch wenn trocken nur ein Synonym für sauer war. Der Steile Süden ist anders. Er ist hat einen Anflug von Zitrusfrucht in der Nase, er hat jede Menge Gärkohlensäure, die die Frische unterstreicht, und er hat eine Säure, die ihres Gleichen sucht. Etwas scharf, und sicher nichts für empfindliche Mägen. Aber: Keine Fehltöne, keine Bitterkeit im Abgang. Unser erster Wein! So wie er aus dem Weinberg kam, gepresst, vergoren, auf die Flasche gezogen. Auf die 72 Grad Öchsle wurde nichts aufgezuckert. Und deswegen hat der trockene Steile Süden heute einen Alkoholwert wie so mancher Süßwein: so um die 9,5 % Alkohol. Da könnte man sich schon ein paar Flaschen in den Hals schütten, ohne dass es einen umhaut. Es sind aber leider nur sechs Flaschen geworden.

Welch schöner Kontrast: Mosel in überbordender Fülle am 6. Februar, dem Tag der Abfüllung eines ultraschlanken Steilen Süden.

Weinlese am Grenzfluss

Fritz Kurtz ist Winzer am Ritthof. Sein Anwesen umfasst mehrere Hektar Magerwiesen mit Kalkunterlage. Die Hänge fallen direkt nach Süden ab, hinunter zur Blies, dem wichtigsten Zufluss der Saar. Hinter der Blies liegt das Département Moselle. Dort war ab 1914 im damals deutschen Saargemünd der expressionistische Schriftsteller Alfred Döblin als Militärarzt stationiert. Er soll auf Spaziergängen rund um den Ritthof die Aussicht und auch die Weine von dort genossen haben. Damals war der Ritthof der größte Weinerzeuger in der Gegend. Laut blies-wein.de sind 40.000 Liter Wein für den Jahrgang 1897 aktenkundig. Heute hat Fritz Kurtz ca. 300 Stöcke der Rotweinsorte Regent gepflanzt. Je nach Jahrgangsqualität macht er daraus Rotwein oder Rosé, den er ab Hof verkauft. Mitte September steigt das Refraktometer schon auf 78 Grad Oechsle, und die folgende Woche soll es trocken bleiben. Ergebnis: Lesegut gesund, reif und reichlich.

Erntehelfer am Ritthof zwischen Bliesmengen-Bolchen und Bliesransbach mit dem tiefroten Regent 2020 und ein paar weißen Tafeltrauben.

Stahltank, Barrique oder Glasballon

Verarbeitet wird vor Ort. Mit dem Trecker fährt der Bruder des Winzers die Traubenbottiche den Steilhang hoch. Im alten Hofgebäude werden sie entrappt und eingemaischt – oder abgepresst, falls der Regent zu Rosé verarbeitet wird. Alles läuft routiniert ab, nicht anders als in einem großen Betrieb. Nur die Gebinde sind kleiner und von anderem Material. Statt Gärtanks aus Beton oder Edelstahl, wie man sie aus den großen Weinbauregionen kennt, kommt man am Ritthof mit Glasballons und Korbflaschen aus.

Die Küche des Alchimisten. Fritz Kurtz bei der Kontrolle des Mostgewichts

Weitere Lagen an Saar und Blies …

An Oberer Saar und Blies, im Grenzland zwischen Saarland und Lothringen, gibt es seit ein paar Jahren wieder einige kleinere Wingerte. Viele sind es nicht, und man kann sie an einem schönen Herbsttag wie heute alle mit dem Rad abfahren. In Kleinblittersdorf gab es früher ein bedeutendes Weingut namens Heckel. Davon sind noch ein paar Hundert Weinstöcke in Bewirtschaftung. Aber sehen kann man sie nur vom französischen Ufer der Saar, am besten von der Schnellstraße, von Sarreguemines kommend Richtung Forbach, kurz vor der Abfahrt nach Saarbrücken. Auch der Wald östlich der Rebenstraße in Kleinblittersdorf war früher ein großer Wingert. Heute steht dort ein Laubwald – auf den von Natursteinmäuerchen gehaltenen ehemaligen Weinbergterrassen. Im unteren Teil hat die Gemeinde ein paar Schmuckreben gepflanzt – als Erinnerung an den kommerziellen Weinbau, der in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Montanboom zu Ende ging.

Bodenhorizont an der Blies: Kalkbrocken in der Humusauflage, gefolgt von einer massiven Schicht Muschelkalk.

Garage Wine from Saar

Mit meinem neu gekauften Refraktometer fahre ich alle mir bekannten Rebanlagen ab und messe Grad Öchsle. Der Klimawandel muss der Oberen Saar und dem Bliesgau zugutekommen. Die Südhänge, die geschützten Lagen, die mageren Kalkböden. Das alles zusammen müssten ideale Voraussetzungen sein für qualitativ hochwertigen Wein. Und das will ich in Zahlen ausdrücken können. Wintringer Hof. Bliesransbach. Haus Lochfeld. Reinheim. Ich messe und messe. Und bin ganz zufrieden. Je nach Rebsorte liegen die Werte knapp unter 80, zum Teil aber auch schon bei 100 Grad Öchsle, was einem durchgegoren Alkoholwert von 10,5% bis knapp 14% entspricht. „Anreichern“, also Zucker zum Most tun, braucht man im Bliesgau nicht mehr.

Garage Wine Productions in Bliesransbach, Saarland. Familie Bubel beim Abpressen der Weißwein-Lese 2020.

Zum Heurigen in die alten Reben

In den aufgegebenen Rebanlagen, von denen noch immer die Terrassen und zum Teil die Natursteinmauern zu erkennen sind wie beispielsweise rund um das Haus Lochfeld bei Wittersheim sieht man auch immer wieder Weinblätter – Austriebe von Reben, die das Ausstocken vor hundert Jahren überlebt haben. Aber man findet im Bliesgau auch eine Rebanlage, die es damals schon gab und die es noch immer gibt. In Bliesransbach, im alten Weinviertel, in dem die Straßen der urbanen Ausdehnungsgebiete der Siebziger Jahre „In den großen Reben“ und ähnlich heißen, stehen ein paar Hundert Weinstöcke, vor Blicken und Wildschweinen durch eine Hecke geschützt. Ihr Besitzer, Herr Bubel, hat den Wingert von seinem Vater übernommen, wie dieser schon von seinem Vater. Die Vielzahl an unterschiedlichen Rebsorten hat er von einem Fachmann ampelographisch bestimmen lassen. Ich hatte das Glück, eingeladen zu sein – auf einen gemischten Satz Weißwein, Jahrgang 2018. Gekeltert und ausgebaut in der Garage. Ohne Zuckerzusatz und ohne Schnickschnack. 10,5 % Alkohol. Bliesransbacher Sommerberg oder so. Ich bin begeistert. Dem Bliesgau-Wein gehört die Zukunft!

In velo veritas

Aufs Rad steigen und losfahren. Ziel: Marseille. Ideallinie Südsüdwesten. Genau von da kommt leider auch der Wind. Kommt er sonst nie. Durch Lothringen, vorbei an Mirabellenhainen, Weizenfeldern, Viehweiden. Durchs krumme Elsass, eigentlich auch noch Lothringen. Nur die Störche scheinen das Geheimnis der Grenze zwischen den Départements „Bas Rhin“ und „Moselle“ zu kennen. Auf der lothringischen Seite sieht man sie nie. Hügel hoch und wieder runter oder entlang des Canal des houillères de la Sarre und des Canal de l’est. Durch Gegenden, wo es nicht einmal mehr eine Boulangerie gibt. Auf grob asphaltierten Autostraßen, über Waldwege oder quer durch die Wiese (laut Fahrrad-Navi bin ich richtig). Begleitet von Schwalben und satten Wespen – das üppige Obstjahr hat sie friedlich gestimmt. Spätsommer. Lange Schatten, die so gut zu Lothringen passen. Und darüber der große Himmel, als schwappe darunter noch immer das alte Meer – das hier zu Beginn des Mesozoikums alles bedeckte – gegen die größeren Hügel, die damals als Insel herausragten.

Canal de l’Est, zwischen Mosel und Saône. Là, ca roule …

Chardonnay von der Saône

Ich verfluche das Fahrradnavi, das mich schon wieder auf eine Seitenstraße gelockt hat, die zu Beginn asphaltiert war, nun aber aus spitzen Steinbrocken besteht und steil nach oben führt. Immer wieder dreht das Hinterrad durch. Irgendwann ist der Anstieg aber doch vorbei, und die Abfahrt führt durch Rebhänge, die ich hier nicht erwartet hätte. Entlang der Saône in der Franche-Comté? Käse, klar, aber Wein? Ich bin den Monts de Gy, und der nächste Ort ist Charcenne, Sitz einer der größten Rebzuchtanlagen des „Hexagons“, wie die Franzosen in geometrischer Aufklärertradition ihr Territoire nennen. Hätte ich hier jetzt nicht erwartet.

Monts de Gy – Trockenwiesen, Weiden – und an geeigneter Stelle auch mal ein Rebberg

Ein Schild neben der Straße: „Pizza – Flamme“. Ein Plastiktisch, zwei Stühle. Ein Typ mit gelbem Radlerkäppi schaut aus dem alten Renault Transporter raus, in dem er die Teiglinge platt macht, belegt und in den Ofen schiebt. Während ich auf meine Bestellung warte, suche ich mit dem Handynetz nach Bio-Produzenten in dieser Weinregion, von deren Existenz ich bis eben noch gar nichts wusste. Acht Kilometer von Charcenne Richtung Saône liegt Motey-Besuche, und dort gibt es die Domaine Lahaye. Mist, da bin ich jetzt schon dran vorbei, und Umwege geben meine Beine heute nicht mehr her. Monsieur Lahaye verrät mir aber am Telefon, dass ich seinen Wein im „Coin bio“ in Dôle finde.

Dôle. Blick auf den Doubs. Flussabwärts kommt schon bald die Mündung in die Saône, die in Lyon in die Rhône mündet, die schließlich in der Camargue ins Mittelmeer mündet …

Dôle

Die Neugier auf den Chardonnay der Lahayes motiviert mich. Ich trete in die Pedale und stelle mir die Strecke bis zum Mittelmeer vor. Saône, Doubs. Dann wieder die Saône, Rast in Lyon, und: rollen lassen, das Rhône-Tal hinunter … So zumindest der Plan. Aber ich komme mit einem Plattfuß in Dôle an. Der Gegenwind aus Südsüdwest lässt nicht nach. Schwerer Regen ist für Lyon angekündigt. Und in Marseille, liest man, steigen schon wieder die COVID-Zahlen. Ich stelle das Rad im Hotel ab, besorge mir den Chardonnay im Bioladen und beschließe, einen Ruhetag einzulegen. Den Wein verwahrt die freundliche Rezeptionistin in der Truhe mit dem Langnese-Eis. Später serviert sie ihn mir – und sich – an der Hotelbar im edlen Glas. Der Chardonnay ist frisch und klar, mit einem Hauch Eichenholz. Ich will ihn sofort einkaufen für den Shop. Aber ich krieg den Winzer nicht mehr ans Telefon.

Ein Chardonnay aus der Franche-Comté, den ich gerne im Programm des crusauvage-Shops hätte … vielleicht wirds ja irgendwas was …

Jura statt Mittelmeer

Nach dem Ruhetag entscheide ich mich gegen die Flachetappen entlang der Flüsse und biege ab in den Jura. Lieber Berge als Gegenwind. Lieber schweizer Gutturallaute als pausenlose COVID-Warnungen. Mein neues Ziel heißt jetzt Yvoire, Küstenstädtchen auf der französischen Seite des Genfer Sees, zu erreichen mit der Fähre von Lausanne. Auf der direkten Radroute liegt Arbois, die Weinhauptstadt des Jura. Hier kultivieren sie eine eigenwillige Variante des Chardonnay, außerdem den „Vin de Paille“, einen Süßwein, dessen Trauben nach der Lese auf Strohmatten getrocknet werden, um den Zuckergehalt zu steigern. Und natürlich den legendären Vin Jaune, noch viel eigentümlicher als die anderen Weine von hier, stark oxidativ und an Sherry erinnernd.

Arbois, Hauptstadt des Jura-Weins, der in den letzten Jahren Kultstatus erlangt hat und für den zum Teil abenteuerliche Preise gezahlt werden.

Bei Pierre Overnoy

Von Arbois führt eine kleine, steil ansteigende Straße in den Ort Pupillin, Weltzentrum der Ploussard-Herstellung, neben dem Trousseau die wichtigste Rotweintraube im Jura. Mitten in Pupillin liegt das Weingut von Pierre Overnoy, dem Vordenker und Vormacher in Sachen Naturwein. In den 70er Jahren verbannte er alle chemischen Hilfsmittel aus dem Keller und verzichtete selbst auf den Schwefel bei der Flaschenabfüllung. Die Tür zum Schuppen steht offen. Ich rufe hinein und bekomme Antwort aus der Küche, wo Pierre Overnoy gerade den Sauerteig bearbeitet. In wenigen Tagen beginnt die Weinlese, und die Helfer müssen mit gutem Brot versorgt werden.

Pierre Overnoy in seiner Küche in Arbois-Pupillin. Bald beginnt auch im Jura die Weinlese, fast zwei Monate früher als im letzten Jahr. Mit 83 mag er selbst nicht mehr in die steilen Wingerte steigen. Die Verantwortung für die Domaine hat er schon vor zwanzig Jahren an Emmanuel Houillon abgegeben. Heute kümmert er sich um die Verpflegung der Erntehelfer mit Sauerteig-Brot.

Kein Neubau aus Glas, Holz und Sichtbeton wie so oft bei den neuen Stars der Weinszene mit ihren horrenden Preisen. Gebrauchte Gerätschaften, Möbel, die hier schon sehr lange stehen. Ein Schäferhund, der unter dem Tisch döst. Kein Firlefanz, kein Blendwerk. Weniger ist hier scheinbar immer noch mehr. So wie in den Anfangsjahren des Naturweins. Pierre Overnoy betrachtet seine Arbeit als eine Rückkehr zu den Verarbeitungsmethoden seiner Vorfahren, als die Pharmakonzerne den Weinbau noch nicht als lukrativen Absatzmarkt für sich entdeckt hatten. Ich habe Glück, er hat Zeit für ein Schwätzchen, Wein gibt’s aber nicht. In den letzten Jahren waren die Erträge gering. Wenn es dieses Jahr besser wird, kriegen wir was ab. Vielleicht. Er gibt mir Emmanuels Handynummer. Ich soll nach der Maischegärung mal anrufen. Kupfer? Nun ja, Kupfer spritzen sie auch. Geht nicht ohne. Ploussard oder Poulsard ist nicht gerade berühmt für seine Pilzresistenz. Aber: Seit Jahrzehnten verwenden sie nur 400g pro Hektar und nicht die 6 kg, die erlaubt sind. Und im Keller nach wie vor keine Chemie!

Letzte Kilometer

Von Pupillin geht’s über ein paar Pässe in immer menschenverlassenere Gegenden des Jura. Bis zum Abend schaffe ich es nur noch bis zum Lac de Saint Point, so einer Art Wiederbeginn der Zivilisation. Im Hotelrestaurant probiere ich diverse Ploussards, von denen mich keiner umhaut. Früh am nächsten Morgen radle ich über den letzten Pass und fahre dann fünfzig Kilometer am Stück talwärts, von der Skistation Métabief bis zum Neuenburger See, wo mich endlich der Regen einholt. In Yverdon-Les-Bains steige ich in den Zug und bin am Abend wieder zu Hause. Auch ohne Wein von Overnoy oder Lahaye bin ich ganz zufrieden. Schließlich geht an der Mosel bald die Weinlese los.

72 Grad Oechsle im Steilen Süden

Sonntag, 6. September 2020. Auf meiner Radtour durch Nordostfrankreich Ende August waren selbst die Weingüter an der Saône und teilweise sogar schon im Jura in der Weinlese. Wie sah’s an der Mosel aus? Im Steilen Süden? War unser Riesling am Neefer Frauenberg eventuell schon überfällig für die Presse? Also fahren Svenja und ich gleich am Sonntag hin, vorbei an kopfschüttelnden Spaziergängern (Auto im Weinberg – unerhört!). Wir inspizieren den Gesamtzustand des Hangs und mischen eine Probe aus den verschiedenen Terrassen zusammen. Ich zermatsche alle Beeren vorbildlich in einem Einmachglas, bis sich genügend Saft gebildet hat, und lasse zwei Tropfen aus der Pipette auf das Prisma des Refraktometers fallen. Das Gerät überträgt die Veränderung der Lichtbrechung durch den aufgetragenen Stoff, in unserem Fall Traubensaft, auf eine Skala, an der ich jetzt das Mostgewicht ablesen kann. In Deutschland wird es in „Grad Oechsle“ angegeben. „72“ lese ich ab. Das entspricht auch dem Geschmackstest. Die Riesling-Beeren sind noch kratzig. Sie müssen noch hängen bleiben und „Photo-Zucker“ aufbauen. So weit also alles okay: Wir sind auf keinen Fall zu spät dran.

In den Sternen steht eine Zahl: „72“. Einheit: Grad Oechsle. Das ist für den 6. September ganz in Ordnung, wenn man das mit den publizierten Zahlen der Vorjahre vergleicht. 80 plus X sollten es aber schon noch werden. (Foto: Svenja Becker)

Und die Öchsle der Nachbarn?

72 Grad Oechsle, das ergäbe so knapp 9,5% Alkohol. „Salattunke“ könnte die Einschätzung Hermann Grumbachs dazu lauten, würde man ihn fragen. Das wissen wir aber auch selber und fragen ihn erst gar nicht. Also hängen lassen! Aber wie lange? Wir testen bei den Nachbarn: Auf 71 kommt der eine Wingert, auf 74 der andere. Wir liegen in der Mitte und sind erleichtert. Hätte ja auch sein können, dass der Steile Süden in Sachen Mostgewicht so eine Art Spätentwickler ist. Ist er aber zum Glück nicht, und das ist nun mit einem geeichten Spezialisten-Instrument bewiesen! Aber wieso ist an der Mosel alles so spät dran? Ich rufe Christine Chaussy in Orange an der südlichen Rhône an. Bei denen ist auch noch nichts reif, sagt sie. Also, alles in Ordnung in der (meiner) Welt des Weins. Nur im Beaujolais, Burgund und Jura war alles viel zu früh dran. „Zwei Monate früher“, meinte Pierre Overnoy sogar, als ich ihn in Arbois traf. Svenja und ich beschließen jedenfalls, den Riesling mindestens bis Ende September, Anfang Oktober hängen zu lassen. „80 Grad Oechsle plus x“ lautet jetzt das Ziel. Bei einem Zuwachs von 1,5 Grad Oechsle pro Tag – wenn die Sonnen mitspielt – sollte das erreichbar sein. Bei 85 Grad Öchsle käme der Wein, wenn alles durchgärt, auf ungefähr 11,5%. Ahoi Steiler Süden! Bis die Oechsle erreicht sind, halten wir uns und den Rieslinggott bei Laune mit Hermann Grumbachs Devonschiefer aus Lieser.