Monat: Dezember 2019

Weinrebellen

Weinbau am Alpenrand im südlichen Département Isère

Ich hole Bruno in Chambéry ab. Wir kennen uns seit über zehn Jahren aus den „Erneuerbaren Energien“, wie man so sagt. Als ich ihm Anfang Oktober von meinem Sabbatical und den Weinprojekten erzähle, schlägt er mir sofort vor, nach Prébois ins Trièves zu fahren. Dort im Alpenvorland hat sein Kumpel Yvan eine alte Mühle hergerichtet und macht neben Konzerten und Partys auch Wein. „Durchaus trinkbaren Wein“, wie Bruno meint, „pas de la piquette“ . Prébois liegt im äußersten Süden des Département Isère. Noch weiter südlich liegt der Col de la Croix Haute, dahinter die Provence, und zweieinhalb Stunden später ist man in Marseille. Als wir in Prébois ankommen, ist es fast Mittag, und es liegt Schnee. Unter dem Vordach der Mühle spalten zwei junge Bretonen Holz. Sie kommen aus dem Protestcamp in Bure, dem Ort im Nordwesten, wo der französische Atomstaat sein Endlager plant. Als Yvan auftaucht, erzählt er von seiner Begegnung mit dem Chef der lokalen Jägervereinigung. Der hatte eine von Yvans Überwachungskameras abgebaut. Jetzt hat er sie ihm zurückgegeben. Und ihn zur Jagd eingeladen. Gut so, aber auch irritierend, findet Yvan.

Wolf auf der Pirsch. Ertappt von Yvans Waldkamera, Trièves, Département Isère.

Altes Weinland

Yvan hat ein strammes Programm für Bruno und mich zusammengestellt. Winzer, Weinberge, Weinkeller. Aber da wir ja in der Energie arbeiten und Yvan jetzt eine Mühle besitzt und vermutlich auch das Wasserrecht miterworben hat, fahren wir erst zu einem Nachbarn, der seine Mühle wieder in Gang gesetzt hat und mittlerweile sogar den produzierten Strom ins Netz einspeist. Mit den Mühlen ist es wie mit dem Weinbau. Der war auch einmal fast vollständig aufgegeben. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es im Trièves 300 Hektar Rebfläche, vor allem im bäuerlichen Nebenerwerb. Aber es war wie überall: Anfang des 20. Jahrhunderts fraß die Reblaus die Reben auf, Schiene und Straße machten Weine aus anderen Regionen verfügbar, und die staatlichen Auflagen erledigten den Rest. Der Weinbau schnurrte zusammen, Zielpunkt Null. Genau wie im an Saar und Blies.

Umkehr der Entwicklung

Auch die Mühlen an den Flussläufen im Trièves waren Jahrzehnte lang aufgegeben – der Strom kam ja aus der (atomaren) Steckdose. Doch der Trend hat sich umgekehrt. Lokales Produzieren ist wieder „en vogue“, bei der Energie wie in der Landwirtschaft. Seit 2008 gibt es den Verein „Vignes et vignerons du Trièves.“ Die Mitglieder investierten in eine hydraulische Presse, eine Abbeermaschine und richteten ein Fasslager ein. Hier werkeln seither ambitionierte Amateure und angehende Weinbau-Profis neben- und miteinander. Auch Yvan ist mit dabei. Er hat einen verwilderten Acker mit uralten Reben übernommen und überhaupt keine Ahnung, welche Sorten da wachsen. Da gibt es Gamay, Grolleau und vielleicht auch Onchette, eine autochthone Weinsorte, die dank des Vereins wiederentdeckt wurde. So genau weiß das keiner. Außerdem gibt so genannte Hybride.

vignes àu lieu dit Chantemerle, Prébois; Reben in Prébois, Lage: Chantemerle
Ivan, der Weinwolf, in der Hand seinen 2019er Rotwein aus unbekannten Trauben. Duft nach Walderdbeere! Wir sind gespannt, was am Ende rauskommt. Im März werde ich zum Rebschnitt wieder nach Prébois fahren, dann werd‘ ich’s wissen. Im Hintergrund die Fässer der Winzer*innen von Prébois. Nur zwei betreiben das hier geschäftlich (einer davon: Samuel Delus), dafür gibt es umso mehr Produzent*innen für den Eigenbedarf, und jede*r arbeitet nach seiner oder ihrer Façon: Fiberglasbottiche stehen neben Edelstahl und Barrique (nicht im Bild).

Die Lösung von heute ist das Problem von morgen

Als die Reblaus Europa heimsuchte, fand man nur ein einziges probates Mittel, um den Weinbau fortzuführen: Man importierte aus dem Heimatland der Reblaus, den USA, resistente Reben und pfropfte auf diese die europäischen Weinsorten Riesling, Grenache, Cabernet Sauvignon … Bis auf ganz wenige Ausnahmen wächst alles, was wir heute konsumieren, auf einer Unterlage aus amerikanischen Wildreben. Mit den Reblaus-resistenten Unterlagen kamen aber auch neue Krankheiten nach Europa, vor allem der „falsche Mehltau“ auch Peronospora oder „Mildiou“ genannt. Zusammen mit dem echten Mehltau ist diese Pilzerkrankung der Hauptgrund für den Einsatz von Spritzmitteln im Weinbau. Wer heute in den Dauerkulturen der Weinberge nicht spritzt, wird nichts ernten. Das gilt für konventionelle und Bio-Weingüter gleichermaßen. Natürlich kann man auch chemiefrei etwas gegen den Pilzbefall tun: Man kann in trockeneren Lagen pflanzen, man kann sich für lockerbeerige Sorten entscheiden, man kann durch Entblättern für mehr Durchlüftung der Rebe sorgen. Durch diese Maßnahmen wird man den Einsatz der Spritzmittel reduzieren, aber ganz auf sie verzichten kann man dadurch nicht.

DJ Max aka Maxime Poulat, an den ungewöhnlichen Slipmats. Er ist einer von zwei kommerziell arbeitenden Winzern in Prébois . Aber keine Sorge, er mixt seine Weine nicht. Er zappelt bei der Weinprobe nur aufgeregt mit den Flaschen herum. Und er macht einen außergewöhnlichen orange wine: „Altitude 828 – vin sans trucage“ (828 m über dem Meer – Wein ohne Beschiss)!

Legal. Illegal. Genial.

Zu Beginn des 20.Jahrunderts entstanden durch Kreuzung von amerikanischen Wildreben und europäischen Weinreben viele neue Sorten, sogenannte Hybride. Nicht alle bekamen einen Namen, so viele waren es. Allen gemeinsam ist ein unschlagbarer Vorteil: Sie sind resistent(er) gegen Pilzbefall und brauchen deutlich weniger Chemikalien, um gesunde Trauben zu produzieren. Geschmacklich sind sie nicht alle gleich interessant. Aber das weiß ja jeder selbst am besten, was ihm schmeckt und was nicht. Warum wurden sie also verboten? Stéphan Balay geht dieser Frage nach in seinem Dokumentarfilm Vitis prohibita. Auch im Trièves findet man Hybride, die nicht für den Warenverkehr zugelassen sind. Illegale Reben? Wahrscheinlich. Und das ist ein Glück! Denn irgendwo muss man anfangen, Erfahrungen zu sammeln, will man den Einsatz von systemischen Chemikalien im konventionellen Weinbau und von Kupfer bei den Bio-Betrieben überwinden.

Englisch untertitelter Trailer des Films Vitis Prohibita über verbotene Rebsorten von Stéphan Balay.

Prébois ist aber nicht nur in Hinsicht Umweltschutz und Biodiversität ein Wegweiser Richtung Zukunft: Hier werden alte Kulturlandschaften wieder flott gemacht, seien es Mühlbäche oder Rebberge. Und in diesen Projekten finden die Bewohner von Prébois zusammen, alte und junge. Und manche wie Max oder Samuel finden darin sogar ihr Auskommen. Als Bruno und ich wieder Richtung Chambéry fahren, haben wir orange-Wines aus Hybriden ohne Schwefelzusatz im Kofferraum und den Kopf voll realer Utopien!

Die Rebe ist eine Liane

Rüdesheim am Rhein. Hotel zur Traube oder so, die wesentliche Deko: Weinlaub aus lackiertem Metall. Ausgebucht mit chinesischen Touristen, die früh morgens von Bussen abgeholt werden. Am nächsten Morgen wird schon die nächste Gruppe Chinesen abgeholt. Vom Hotelzimmer habe ich einen unverbaubaren Blick auf die B42, auf die dahinterliegende Güterbahnlinie, den Rhein mit vertäuten Kreuzfahrtschiffen und vorbeiziehenden Öltankern. Und schließlich auf Bingen, den Ort auf der gegenüberliegenden, pfälzischen Rheinseite. Im Sträßchen-Gewirr rund um die Drosselgass‘ stehen rustikale Holzbuden. Rüdesheim atmet noch immer die Sehnsucht der Adenauer-Republik nach Aufbruch, Wohlstand, und einem unbeschwertem Geschichtsvergessen, beflügelt durch klebrig-goldige Rieslinge mit schrulligen Etiketten. Dass mitten durchs Weinidyll die Heilige Dreifaltigkeit des Rekord-Export-Meisters aus Güterzugtrasse, Flussautobahn und Bundesstraße donnert und stinkt, stört die Chinesen nicht. Aber mich auch nicht. Ich habe einen Schlaf, so eisern wie das Rebendekor im Treppenhaus.

Die Infrastruktur immer fest im Blick: Rheinromantik zwischen Bingen und Rüdesheim 2019

„Die Rebe ist eine Liane.“

„Die Rebe ist eine Liane.“ Das ist das erste, was ich lerne im Rebschnittkurs von Simonit und Sirch, der an der Hochschule in Geisenheim stattfindet. Die Rebenliane rankt sich an allem hoch, was in ihrer Nähe steht: einem Pfahl, einem Draht, einem Baum, einer anderen Rebe. Ich weiß, wie das nach ein paar Jahren aussieht, wenn man nicht eingreift: Myriaden in sich verschlungener Tentakel – wie im steilen Süden.
Um im Wettbewerb um das Sonnenlicht zu bestehen, verfügen Lianen über einen großen Vorteil gegenüber ihren Wettbewerber*innen: Der Austrieb, der am weitesten von Wurzel und Stamm entfernt ist, treibt am stärksten aus. Im Kurs nennen wir das „apikale Dominanz“. So gelangt die Pflanze am schnellsten in die Krone der Bäume und kann dort ungetrübt Photosynthese betreiben. Wenn man aber Trauben ohne Leiter ernten möchte, muss man hier einschreiten. Also schneiden. Aber wie?

Lese in Kampagnien: Die Rebenlianen wachsen traditionell hoch in die Bäume (Quelle: http://www.rivistadiagraria.org).

„Follow the flow“, lautet die Devise

Jeder Schnitt an der Pflanze ist ein lautloses „Autsch“. Wir spüren ihn nicht, aber der Pflanze fügen wir eine Wunde zu, wie ein Schnitt in die Fingerkuppe bei der Weinlese. Über Wunden können Krankheiten in den Organismen eindringen, bei der Pflanze nicht anders als beim Menschen. Die Konsequenz daraus heißt: So früh wie möglich schneiden und so kleine Schnitte wie möglich machen! Außerdem: Wenn wir falsch schneiden, vollzieht sich die Vernarbung der Wunde so, dass der Narbenwulst nach innen wächst. Dann wird der Saftfluss der Pflanze von den Wurzelspitzen in die Blätter und Trauben gestört. Das geht zu Lasten von Quantität und Qualität. Außerdem ist das sich dabei bildende Totholz ein idealer Nistplatz für Holzkrankheiten wie der Holzfäule Esca. Damit das Eintrocknen nicht im Altholz passiert, schneiden wir im Winter das zweijährige Holz nicht auf den Stamm zurück, sondern lassen ein Stück stehen, das so genannte „Respektholz“. Im Folgejahr können wir das dann abgetrocknete Respektholz entfernen. Der Vorteil. Die Austrocknung findet außerhalb des Altholzes statt, das Altholz wird nicht belastet.

Zwei Wochen nach dem Kurs in Geisenheim besuche ich zwei Bio-Weingüter im Lyonnais, südwestlich von Lyon. Ich schaue jetzt anders auf die Reben – und entdecke überall Respektholz aus dem letzten Jahr. Der Altwinzer Robert, sagt, dass er sich die neue Methode nicht mehr aneignen könne. Eine Rebe, bei der „so Stummel“ stehenblieben, sehe für ihn nicht richtig aus. Aber sein Sohn, der heute das Weingut führt, ist überzeugt von der neuen Schnittmethode. Und da er nicht genug Leute findet, die wissen, wie das geht, bekomme ich gleich eine Einladung zum Rebenschneiden …

Die Rebe ist eine Liane. Sie rankt an allem hoch, auch an Menschen, die zu lange tatenlos rumstehen. Damit wir nicht verschlungen werden, setzt der Kurs auf praktische Anwendung. Nach der Theorie sind die ersten Versuche im Weinberg allerdings etwas zögerlich. Bei mir, bei allen. So müsste sich ein Chirurg fühlen, wenn er das erste Mal im OP nach einem Organ sucht, ohne zuvor an einer Leiche experimentiert zu haben. Aber ein paar Tage und ein paar verschnittene Stöcke später läufts!